Kölner Autorin Melanie Raabe„Lady Gaga hat mir den Mut gegeben, weiter zu machen“

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Die Kölner Autorin Melanie Raabe

Melanie Raabe, geboren 1981 in Jena, lebt schon seit vielen Jahren in Köln. Lange Jahre schrieb sie nur nachts und heimlich und als sie endlich mit ihren ersten Texten an die Öffentlichkeit ging, blieb der Erfolg zunächst aus. Doch Raabe hörte auf ihre innere Stimme und blieb dran. Heute erscheinen ihre Thriller wie „Die Falle“ oder „Die Wälder“ in Traumauflagen und sind in mehr als 20 Ländern veröffentlicht worden. Das Durchhalten, sagt sie, hat sie von Lady Gaga gelernt. Jetzt hat sie der Pop-Ikone ein Buch gewidmet. Es ist, erzählt sie im Gespräch von Fan zu Fan, viel persönlicher geworden, als sie es geplant hat. 

Melanie Raabe, wir sind beide große Lady-Gaga-Fans. Aber Sie haben gleich ein ganzes Buch über Ihre Liebe zu Lady Gaga geschrieben. Was war Ihr Erweckungserlebnis?

Melanie Raabe: Es war eher ein Prozess. Ich war von Anfang an milde interessiert. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wo ich war, als ich das erste Mal das Musikvideo zu „Just Dance“ gesehen habe.

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Wo denn?

In meiner Wohnung im Belgischen Viertel. Da hatte ich noch einen kleinen Fernseher aus meinem Kinderzimmer. Aber so richtig Klick gemacht hat es erst, als ich ein YouTube-Video gesehen habe, in dem Lady Gaga unverstärkt am Klavier singt. Da habe ich gecheckt, dass das eine richtige Musikerin ist. Mit guter Stimme, die auch Klavier spielen kann. Ach, den Song hat sie selbst komponiert und das Arrangement stammt auch von ihr? Und was für eine unglaubliche Präsenz die hat! Seither war ich an Bord.

Sie schreiben, dass die Pet Shop Boys eine ihrer ersten Lieblingsbands als Kind waren. Das war lustigerweise meine Initiation: Ein Telefon-Interview mit Neil Tennant von den Pet Shop Boys, bei dem er von dieser neuen Sängerin namens Lady Gaga schwärmte. Die werde bestimmt ein Star, weil man ihre Songs schon jetzt kenne, selbst wenn man kein Radio hört oder Fernsehen guckt.

Ja, sie ist wirklich so schnell durch gestoßen. Ich war vor zwei, drei Jahren an Silvester in Rom, saß auf der Spanischen Treppe und hörte plötzlich eine Marching Band, so eine Blaskapelle, näher kommen. Und schon von weitem kam mir das bekannt vor: Die spielte „Bad Romance“. Sie ist einfach so extrem im kulturellen Bewusstsein angekommen.

Melodien aus dem Äther

Mein erstes Lady-Gaga-Konzert war im Palladium. Das war eine so unfassbare Menge an klugen Anspielungen, kulturellen Überspitzungen und komplett wahnsinnigen Ansagen...

Das übersieht man leicht, wie tiefgründig sie als Künstlerin ist. Sie könnte ohne weiteres auch E machen, aber sie liebt halt U. Dass jemand, der so singen, so komponieren, so unglaubliche Melodien aus dem Äther fischen kann, sich dann entscheidet mit Dance Pop zu debütieren, weil ihr das nun mal so gefällt: Ach, mein Herz!

Dabei waren sie, schreiben Sie, eigentlich als klassische Indie-Pop-Hörerin sozialisiert. Da stieß man mit Lady Gaga im Freundeskreis doch schnell auf Widerstand?

Ich finde, Popmusik dieser Couleur wird häufig total unterschätzt. Leute, die bei Lady Gaga weg hören, weil sie denken, dass ihnen so was nicht gefallen sollte, die verpassen etwas. Diesen Dünkel finde ich sehr schade. Mir ist vollkommen egal, ob irgendjemand meinen Musikgeschmack cool findet. Ich hätte auch ein Buch über Radiohead, über Arcade Fire, oder über Nick Cave, den ich verehre, schreiben können. Aber das wäre nicht die Geschichte gewesen, die ich erzählen wollte.

Sehr persönlich geraten

Dabei betonen Sie am Anfang Ihres Buches, wie wenig Sie mit Lady Gaga verbindet. Hier die New Yorker Upper East Side, dort erst die ostdeutsche, dann die nordrhein-westfälische Provinz. Aber es gibt doch dieses gemeinsame Thema vom sich selbst erfinden?

Ja, das stimmt. Das ist mir aber erst beim Schreiben aufgefallen. Ich wusste anfangs nur, wie sich das Buch anfühlen sollte, aber nicht hundertprozentig, was ich da erzählen wollte. Es ist ein bisschen persönlicher geraten, als ich das geplant habe. Aber wo ich schon einmal das Privileg hatte, bezahlt ein paar Wochen über Lady Gaga nachzudenken, habe ich mich gefragt, warum ich mich in genau diese Künstlerin verliebt habe. Und das hat nicht nur damit zu tun, dass ich sie – im Gegensatz etwa zu Katy Perry – für eine verkannte Virtuosin halte. Sondern auch damit, dass mich dieses Spiel mit den Masken fasziniert, diese Selbstermächtigung, seine eigene Persona zu kreieren. Ich habe mich immer schon zu Künstlern und Künstlerinnen hingezogen gefühlt, die auch eine Persona haben. So wie David Bowie.

Lady Gaga

Lady Gaga

Warum? 

Weil es für jemanden wie mich, der sich nicht immer toll findet, der nicht immer mutig ist, einen gewissen Reiz hat, dass man sich auch andere Häute überstreifen kann. Oder sich wie Lady Gaga als Superheldin neu erfinden kann. Das sagt sie ja auch heute so, dass sie früher sehr viele Probleme hatte, sich deswegen als Superheldin reimaginiert hat — und es schließlich geworden ist. Sie ist in dieses Cape reingewachsen, das ein Fleischkleid sein kann, oder was auch immer sie gerade trägt. Das hat mich angezogen, weil dahinter so viel Freiheit, Empowerment und Fantasie steht. Der Gedanke, dass ich nicht nur so aussehen muss, wie Gott oder die Genetik das bedingen, sondern so, wie ich entscheide, dass ich aussehe.

Es ist ein wenig wie bei Drag Queens oder Kings: Das alte Ich verschwindet hinter einer Rolle, in der auch das Geschlecht eine Performance ist... und erst auf diese Weise findet man zu sich selbst...

Das ist doch sehr poetisch, dass man sich selbst verfremden und dadurch authentischer werden kann, oder mehr über sich selbst lernt!

Nicht im Badeanzug sehen

Zu Beginn von Lady Gagas Karriere hat zum Beispiel die Riot-Grrrl-Ikone Kathleen Hanna gefragt: „Ist das noch Feminismus, wenn du deine Botschaft im Badeanzug verbreitest?“ Eine berechtigte Kritik?

Die kommt ja immer mal wieder, im Moment haben wir die gleiche Diskussion mit Megan Thee Stallion und Cardi B. Ich muss Lady Gaga nicht im Badeanzug sehen, aber bei ihr hat mich das nie gestört. Ich kann mich noch an diese frühen Fotos erinnern, wo sie in coolen Kostümen aber ohne Hosen durch die Gegend gerannt ist. Das hatte für mich eher so einen Pop-Art-Effekt: Egal, welchen Paparazzi-Schuss ihr von mir seht, ich sehe immer kuratiert aus. So wie Andy Warhol immer kuratiert ausgesehen hat.

In Ihrem Buch taucht Lady Gaga immer mal wieder als gute Fee auf, mit neuen Kleidern, wie in „Drei Nüsse für Aschenbrödel“. Haben Sie das wirklich so geträumt, oder ist das nur ein literarisches Spiel?

Ein literarisches Spiel, ich kann mich selten an meine Träume erinnern. Ich wollte keinen musikjournalistischen Text über Lady Gaga schreiben, sondern einen, den nur ich schreiben kann. Ein Genremix, der sich magisch anfühlt. Und sie hat doch wirklich ein bisschen was von einer guten Fee, so wie sie sich um ihre Fans kümmert, oder sich engagiert.

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Sie fühlten sich ja tatsächlich durch Lady Gaga ermutigt, etwa Ihre Schüchternheit zu überwinden und die Clubabende zu gestalten, die sie im Buch beschreiben?

Auf jeden Fall. Man weiß ja am Ende nie, was genau den Unterschied gemacht hat. Vielleicht ist es nur eine ganz kleine Verschiebung durch Osmose oder „social contagion“. Aber dieser Satz aus dem Buch — „Lady Gaga kam für mich genau zur richtigen Zeit“ — der stimmt total. Ich spreche im Moment mit vielen Fans, für die etwa eine Hymne wie „Born This Way“ einen Riesenunterschied gemacht hat. Für die war dieser Song das erste Mal, dass ihnen jemand gesagt hat: Du bist okay so wie du bist.

Inwieweit hat Sie denn das Vorbild Lady Gaga als Schriftstellerin motiviert?

Zum Beispiel, indem sie erzählt hat, dass es bei ihr lang gedauert hat, bis sie den Durchbruch schaffte. Und auch, weil sie eben nicht aussieht, als käme sie aus der Klonfabrik für Popstars. Mich zieht es zu allem hin, was anders ist, was nicht so ins Bild passt. Das hat mir den Mut gegeben, es weiter zu versuchen.

Energie in alle Richtungen

Und nicht aufzugeben, wenn es wieder bergab zu gehen scheint. Zwischenzeitlich dachte man ja, das wäre es jetzt mit Lady Gagas glänzender Popkarriere und sie würde nur noch Standards mit Tony Bennett singen.

Gerade an dieser Gaga-Renaissance, die wir gerade erleben, merkt man doch, wie viel Substanz da ist. Dass die Frau immer noch brennt, so viel Energie in alle Richtungen abstrahlt, obwohl sie ja kein durch und durch gesunder Mensch ist, weder an Körper noch Geist.

Sie schreiben auch sehr schön, wie sie auf ihrem letzten Album „Chromatica“ einerseits in den Club zurückkehrt, andererseits zur Dance-Pop-Begleitung von all ihren Verletzlichkeiten singt.

Das so zu verbinden und auch seinem Publikum zuzutrauen, da genau hinzuhören, das gibt es sehr selten. Dieser Spalt, der sich zwischen der Musik und diesen Traumata auftut, über die sie singt, den finde ich sehr interessant.

Lichte Thriller

Da sehe ich schon eine Parallele zu Ihnen: Sie haben als Autorin eine populäre Form wie den Thriller  gewählt, um damit aber ganz andere Dinge auszudrücken.

Ja, absolut. Stimmt. Mir ist es in meinen Romanen wichtig, dass die — meistens weiblichen — Figuren vor extreme Herausforderungen gestellt werden, die sie in irgendeiner Form überwinden können. Und am Ende, ohne jetzt meine eigenen Bücher spoilern zu wollen, gibt es immer Helligkeit. Also ich empfinde mich als eine sehr lichte Autorin, dafür dass ich Thriller schreibe — und Lady Gaga ist,  dafür dass sie Popmusik macht, eine sehr düstere Musikerin. 

Das Gespräch führte Christian Bos

„Melanie Raabe über Lady Gaga" ist in der KiWi Musikbibliothek erschienen, 128 Seiten, 10 Euro

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