„Wir wollen das Schweigen brechen“Kölner Künstlerinnen starten Aufruf für Geflüchtete

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Die Kölner Schauspielerinnen Mersiha Husagic und Jasmina Musić setzen sich für die Menschen im Lager von Lipa ein.

  • Die beiden Kölner Künstlerinnen Jasmina Musić und Mersiha Husagic über Fluchterfahrung und Verantwortung.

Köln – Frau Musić, Sie haben zusammen mit der Schriftstellerin Alida Bremer einen Aufruf gestartet, um auf die Situation der Geflüchteten in Bosnien und Herzegowina aufmerksam zu machen. Zu den Erstunterzeichnerinnen zählen neben Ihnen, Frau Husagic, zum Beispiel die Schriftstellerin Inger-Maria Mahlke und der Schriftsteller Saša Stanišić. Was war Ihr Impuls für den Aufruf?

Jasmina Musić: Wir wollten das Schweigen stören. Das Schweigen der Öffentlichkeit zur Lage in Bihać fand und finde ich schwer erträglich. Da leben Menschen bei Temperaturen von Minus 10, 20 Grad draußen, da werden Menschen von der kroatischen Polizei mit Pushbacks brutal zurückgeschlagen und verletzt – und die EU sagt zwar Geld zu, die Zustände ändern sich aber über Wochen kaum. Das finde ich verstörend.

Mersiha Husagic: Wir waren beide auch einmal Kriegsflüchtlinge – mich hat Jasminas Aufruf sofort sehr berührt. Europa steht, wie Ihr in Eurem Aufruf geschrieben habt, eigentlich für Humanität und Menschenwürde. Meine Familie hat das in Hamburg erlebt, als uns eine Frau aus der Flüchtlingsunterkunft holte und uns mehrere Jahre bei sich wohnen ließ. In Bihać werden diese Werte mit Füßen getreten und niemand fühlt sich richtig verantwortlich.

Jasmina Musić: Die Geschichte von Gestrandeten Kriegsflüchtlingen, die wie der letzte Dreck behandelt werden, hat mich schon bei einem Besuch vor drei Jahren in Sarajewo betroffen gemacht: Da campierten in der Nähe der Altstadt 100 Menschen, viele Frauen und Kinder, in improvisierten Zelten. Die Leute sagten: Gib denen nichts, die sind gefährlich! Der Journalist Dirk Planert, der seit Jahrzehnten über die Balkanroute berichtet und schon während des Kriegs Anfang der 1990er Jahre als humanitärer Helfer in Bihać gearbeitet hat, hat die Aktion SOS Bihać initiiert – wir haben für sein Projekt schon mal eine Spendenaktion gemacht, als ich noch in Berlin am Gorki-Theater war. Als kurz vor Weihnachten das Lager in Lipa brannte, musste ich meine Wut und Traurigkeit aufschreiben – seitdem überlege ich ständig, wie sich mehr Aufmerksamkeit für das Thema schaffen lässt.

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Liegt es an der Corona-Pandemie, dass die Zustände in Bihać in der Öffentlichkeit eher selten thematisiert werden?

Jasmina Musić: Bestimmt, jeder ist mit sich und dem Virus beschäftigt, aber es ist sicher auch das schlechte Gewissen der EU, die die Menschen ja abschrecken will. Und die Pushbacks, die Folter, einfach hinnimmt. Alida Bremer hat sich schon in den 1990er Jahren stark für Geflüchtete eingesetzt – ich habe sie angerufen und gefragt, was wir tun können.

Mersiha Husagic: Da kommen Geflüchtete aus dem Krieg, und werden in Europa wieder verprügelt und gefoltert – von der Polizei. Mir geht das durch Mark und Bein. Vielleicht spielt mein eigener Hintergrund dabei eine Rolle dass ich darauf sehr stark reagiere – wir mussten im Krieg ja auch unsere Heimat verlassen – und mussten hoffen, gut behandelt zu werden.

„Wir mussten uns im Badezimmer verstecken“

Sie sind als Kinder mit ihren Familien während des Krieges 1992 aus Bosnien nach Deutschland geflüchtet. Woran erinnern Sie sich zuerst?

Mersiha Husagic: An die weißen Kacheln unseres Badezimmers in Bijeljina. Wenn die Stadt beschossen wurde, hat die Familie sich im Badezimmer verschanzt, weil im Keller Wasser stand und das Badezimmer keine Fenster hatte. Warum verstecken wir uns die ganze Zeit im Badezimmer? Warum gehe ich hier nicht nur ganz normal auf die Toilette? Ich habe das als Dreieinhalbjährige nicht verstanden. Aber es bleibt im Körper.

Jasmina Musić: Wir sind zwischendurch aus Banja Luka nach Belgrad geflohen, da hat meine Mutter mir verboten, in der Öffentlichkeit zu sprechen – damit unser bosnischer Dialekt uns nicht verrät. Außerdem habe ich bis heute manchmal so ein Phantomjucken an den Unterschenkeln – meine Mutter hat meiner Schwester und mir unser erspartes Geld in die Socken gesteckt, es hat gejuckt wie blöd und wir durften nicht dran.

Hat Ihre Vergangenheit Einfluss auf Ihr Engagement heute?

Jasmina Musić: Ich bin sicher, dass Traumata transgenerational weitergegeben werden. Jedes Mädchen hätte im Jugoslawien-Krieg vergewaltigt werden und sterben können. Das sind existenzielle Erfahrungen von Generationen – ich arbeite dazu aktuell auch in einem Theaterprojekt mit verschiedenen Generationen von Schoah-Überlebenden. Als Kind spürt man: Da ist so viel Angst. Warum?

Mersiha Husagic: Man kann es nicht einordnen, aber es brennt sich ein. Jasmina Musić: Wir haben beide einen muslimischen Hintergrund – und hätten ethnischen Säuberungen zum Opfer fallen können. Wir sind Überlebende eines Genozids! Mein Vater ist im Krieg gestorben, auch einer meiner Onkel. Irrerweise könnten wir bis heute in viele Regionen unseres Heimatlandes nicht zurückkehren – weil nationalistische Kriegsverbrecher weiter an der Macht sind. Viele haben aus der Geschichte nichts gelernt.

Mersiha Husagic: Das ist wirklich unfassbar. Eine weitere Parallele von uns ist: Wir waren beide sehr privilegiert. Meine Eltern waren Ökonomen ...

Jasmina Musić: ... und meine Ärzte. Wir haben auch beide in Deutschland viel Nächstenliebe erfahren – Du von der unbekannten Familie, die Euch aufnahm, ich zum Beispiel von meiner Oma Renate in Dortmund, die mich mitnahm ins Theater und mir beibrachte, dass jeder Mensch gleich viel Wert ist. Zur Frage nach der Bedeutung der Herkunft: Es stimmt, dass mich das auch in meiner Arbeit prägt – andererseits würde ich mich dagegen wehren, alles darauf zu beziehen, dass ich mal geflüchtet bin. Es ist ja umgekehrt: wir haben große Privilegien, Engagements, Lehraufträge – wir sind nicht in Lipa, sondern in einer Komfortzone und können von hier darüber sprechen.

„Unser Stand in der Gesellschaft ist eine Verantwortung“

Mersiha Husagic: Ich sehe unsere Vergangenheit und unseren Stand in der Gesellschaft als Verantwortung: Etwas zu sagen, nicht zu schweigen. Nicht in erster Linie als Flüchtling oder Künstlerin, sondern als Mensch. Aber als Künstlerin kann ich mich ausrücken: Ich liebe es, in Krimis mitzuspielen. Aber ich brauche auch die Auseinandersetzung mit persönlichen Lebensthemen: Ich drehe schreibe gerade ein Drehbuch über Srebrenica, ich habe einen Dokumentarfilm über meine Mutter und ihren Umgang mit Themen wie Krieg und Flucht gemacht und zuletzt meinen Bachelor-Spielfim in Sarajevo, in dem es um Flucht und Vertreibung geht. Als Filmemacherin suche ich mir diese Themen aus.

Wie waren die Reaktionen auf den Aufruf?

Jasmina Musić: Ein Politiker schrieb in wunderschönem Amtsdeutsch, dass er um die Zustände wisse und das sehr bedauere. Immerhin hat er angekündigt, uns zu unterstützen. Wir verurteilen das, schrieben viele. Gehandelt wurde bislang wenig. Aber es gibt Künstler, die jetzt Projekte zu dem Thema planen: Bilder, Theaterstücke. Es gibt Ideen, mit bildender Kunst an das Thema zu gehen. Ich habe eine Lesung gemacht und möchte ein Gedicht vertonen, vielleicht macht Lars Eidinger mit. Ich bin im Gespräch mit dem Schauspiel Köln und anderen Theatern, die sich positionieren wollen. Ich würde mir wünschen, dass jeder seine Superkraft einbringt, Texte, Musik, Gedanken, Bilder, und wir damit Aufmerksamkeit schaffen, Diskurs.

Mersiha Husagic: In der Pandemie werden Abermilliarden für die Wirtschaft aufgebracht – aber Menschenleben werden nicht ohne weiteres gerettet. Unser Leben im Westen macht uns mitverantwortlich für die Migrationsbewegungen. Natürlich kann Europa nicht jeden aufnehmen – aber jeder, der kommt, muss menschenwürdig behandelt werden. Warum ist die Situation in Lipa so eskaliert? Wieso wenden die Beamten in Kroatien Gewalt an? Werden sie unter Druck gesetzt? Wenn ja: Von wem? Ist das eine gezielte Abschreckung? Es gibt so viele Fragen. Zum Beispiel auch: Wie kaputt sind wir, das hinzunehmen und wegzuschauen, wenn Menschen in Europa verprügelt und gefoltert werden?

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