Annie Clark, alias St. Vincent, gab ein aufregendes Konzert in Köln. Unsere Kritik.
Konzert in der Live Music HallSt. Vincent tigert, torkelt, wirft sich auf den Security-Mann

Die amerikanische Musikerin St. Vincent spielte in der Kölner Live Music Hall
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Annie Clark beugt sich an der Bühnenrampe vor, zeigt uns ihre Wunde. Ein weißer Verband bedeckt Teile ihres linken Unterarms. Sie habe sich „MRSA“ eingefangen, scherzt sie. Und bereut es sogleich, als die verwirrte Nachfrage aus dem Publikum kommt, was denn das bitteschön sei? Die Texanerin seufzt. Aber abschlagen möchte sie die Bitte auch nicht. MRSA, das sei ein Akronym für eine Staphylokokken-Infektion, die man sich in Krankenhäusern holen kann. Aber eigentlich habe sie sich nur beim gestrigen Auftritt in Utrecht den Arm aufgeschürft.
Da soll noch jemand sagen, auf Rockkonzerten lerne man nichts. Manchmal kann man sogar in Rockkonzert-Besprechungen etwas lernen. Etwa, dass Annie Clarks Künstlername, St. Vincent, ebenfalls auf ein Krankenhaus verweist. Nämlich auf das New Yorker Hospital, in dem der alkoholkranke Dichter Dylan Thomas gestorben ist. Was Clark einer Songzeile von Nick Cave entnommen hat.
Auf der Bühne betreibt St. Vincent Rollenspiele
Wie es zu dem kleinen Unfall in Utrecht gekommen ist, lässt sich in der Kölner Live Music Hall leicht nachvollziehen: St. Vincent tigert zu „Birth in Reverse“ in laufmaschiger Strumpfhose über die Bühne, greift ihren Mitmusizierenden in Saiten oder Tasten, wirft sich zu „Dilletante“ gegen die Absperrung ihren Fans entgegen, greift ihnen ins Haar, setzt sich ihre Hüte auf, und besteigt zu „Sugarboy“ liebestoll den verwunderten Security-Mann, der sie zurück aufs Podium heben will, zwinkert ihm, als sie ihn endlich aus der Umklammerung entlässt, verliebt zu. Zuvor hatte sie bereits am Ende der hart rockenden Powerballade „Cheerleader“ ihre maßgearbeitete „Music Man“-Gitarre in die Menge geworfen. Kurz: Die queere Künstlerin benimmt sich, als hätte sie selbst schwer einen in der Krone, wie der dauertrunkene Waliser.
Doch das Chaos ist kontrolliert, die teure Gitarre wird gleich wieder einkassiert. Und die scheinbar unberechenbar herumtorkelnde Rocksängerin, sie ist nur eine aufgesetzte Persona, ein Bowie-artiges Rollenspiel, wie Clark es auch auf ihren konzeptuell aufgeladenen Alben liebt. Schon der mysteriöse Auftakt der Show – St. Vincent singt im vernebelten Gegenlicht mit bebender Stimme „Reckless“ aus ihrem aktuellen Album „All Born Screaming“ – täuscht falsche Tatsachen vor: Die darkwavige Trauerballade kennt keinen Toten. Nur die Angst, einen lieben Menschen verlieren zu können.
„Ich bin ein kleiner Floh“, singt sie in „Flea“, „wenn ich einmal in dir drin bin, wirst du mich nicht mehr los.“ Die Stilisierung als Problem-Freundin führt dann aber zu einem fast Progrock-artigen Instrumentalteil, der sehr viel mehr Selbstkontrolle verlangt, als sich St. Vincent in den Lyrics zugesteht. So verbirgt die musikalisch manchmal geradezu bombastische Inszenierung – es gibt sogar ein langes, donnerndes Schlagzeugsolo als Intro zu „Marrow“ – oft zart-intime Bekenntnisse. „Hey, wen guckst du an? Wer zum Teufel glaubst du, dass ich bin“, konfrontiert sie in „Broken Man“ das Publikum mit kehliger Stimme – als könnte es nur falsche Antworten geben.
Nur gelegentlich wünscht man sich ein wenig mehr Mut zum unverfälschten, offen präsentierten Gefühl: Der Song „New York“ ist ihre schöne, zurückhaltende Hommage an ihre Wahlheimat. „The city“, das lassen wir jetzt mal besser unübersetzt, „that made me the cunt that I am“ und an deren gefallenen Helden David Bowie. St. Vincent unterbricht ihn immer wieder mit einem doch eher aufgesetzt wirkenden Lachkrampf. Man hätte ihn in diesem Moment lieber einfach durchgehört. Aber auf langer Strecke schlägt die Reibung zwischen der uneigentlichen Oberfläche und dem verborgenen Wesenskern irre Funken.
Zumal sich diese Spannung auch auf die Musik überträgt. Die Band klingt superprofessionell und trotzdem locker. St. Vincents verzerrt aufbrüllende, aufgekratzt dissonante Gitarrenläufe duellieren sich immer wieder mit dem nicht minder aufregendem Saitenspiel ihres Co-Lead-Gitarristen Jason Falkner. Beide stürzen sich mit ihren Instrumenten aufeinander wie ein lange getrenntes, in Leidenschaftsbekundungen explodierendes Liebespaar.
Nur zur Zugabe werden die Gitarren beiseite gelegt, die Keyboarderin spielt bluesige Nachmitternacht-Akkorde. St. Vincent betritt die Bühne, wirf den Kopf lachend in den Nacken, bläst lasziv Rauch in die Luft: „Manchmal, wenn Jazz passiert, braucht Annie einfach eine Zigarette.“ „Candy Darling“ ist eine Hommage an den früh verstorbenen Warhol-Superstar gleichen Namens. Auch sie eine Gestaltwandlerin, die mit Perücke und Schminke wahrhaftiger wirkte, als in der schmucklosen Standardausführung.