Kulturleben und CoronaWarum wir Lesungen so sehr vermissen

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Normalerweile lesen die Autoren live im Studio – jetzt gibt es höchstens Literatur aus dem Home Office, wie hier beim Bachmannpreis.

Köln – Ich sinke etwas tiefer in meinen harten Stuhl und überlasse mich dem Rhythmus der Worte, dem Sog der Erzählung. Neben mir hüstelt und raschelt es – oder schnarcht da jemand?

Natürlich kann ich Bücher viel gemütlicher zu Hause auf dem Sofa lesen. Warum ich Lesungen trotzdem so vermisse? Diese besondere Stimmung abends mit runter gedimmten Licht in der Buchhandlung oder im Literaturhaus?

Weil ich Autoren gerne zuhöre. Ihrer ganz eigenen Sprachmelodie, wie sie betonen –  ein Buch kann sich völlig verändern, je nachdem, wer es (vor-)liest. Ein professioneller Sprecher macht selbst aus den Börsenkursen noch große Literatur.

Vorlesen in Corona-Zeiten ist anders

Und wenn jemand einen eigenen Text liest, dann spüre ich etwas von ihrer Idee dahinter: Von der Dringlichkeit oder der Lakonie, von der ganzen Haltung beim Schreiben. Wenn es gut läuft, liest die Autorin oder der Autor auch noch so leidenschaftlich, dass das gesamte Publikum unter Hochspannung steht.

Schließlich ist es ihr Buch, ihr Baby, über dem sie oft noch viel mehr als neun Monate gebrütet haben. Jetzt darf es raus in die Welt. Eine freundliche? Eine feindliche? Die Anspannung ist groß und umso größer ist die Erleichterung, in   gespannte oder gar gerührte Gesichter des Publikums zu schauen.

Sie haben so lange Zeit mit ihren Figuren verbracht, so viele Höhen und Tiefen mit ihnen erlebt, dass sie jetzt, wo alles geschafft ist, von ihnen erzählen können, wie von guten Freunden.

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Zur Abi-Zeit war ich ein großer  John Irving-Fan. Es waren die späten 90er und zwischen Popstar und Autor machte ich keinen Unterschied. Warum auch? Weil ich kein Geld für das Buch hatte, bat ich ihn im Anschluss an die Lesung, auf meinem T-Shirt zu unterschreiben, was er auch ohne mit der Wimper zu zucken machte.

Im Germanistik-Studium brachte man uns dann bei, dass ein Autor nicht unbedingt selbst am besten über seinen Text Bescheid weiß. Wer dann? Germanisten natürlich! Und die lassen genau das auch gerne raushängen, wenn sie mal Lesungen moderieren dürfen.

Das peinliche Schweigen überm Wasserglas.

Die Frage aus dem Publikum „Wie viel von  Thomas Müller steckt eigentlich in Ihrem Roman?“.

Der Autor, der seine Antworten einleitet mit der Bemerkung: „Hätten Sie das Buch tatsächlich gelesen, dann wüssten Sie...“

Die überambitionierte Moderatorin, die sich in den wildesten Theorien zum Text versteigt.

 Der genervte Bestseller-Autor, der an diesem Abend noch drei andere Termine hat.

Die Veranstalterin, die eigentlich nur „Guten Abend“ sagen sollte, aber bei der Gelegenheit noch ein halbstündiges Referat hält.

Es stimmt ja auch: Autoren sollen schreiben und sind nicht auch noch  dazu da, das Ganze   super-eloquent literaturgeschichtlich einzuordnen. Aber es geht ja auch niemand aus wissenschaftlichem Interesse zu einer Lesung. Also, ich auf jeden Fall nicht.

Mich interessiert die Person hinter dem Buch. Was treibt sie an? Wie sieht es an ihrem Schreibtisch aus? Warum spielt die Geschichte ausgerechnet im England des 19. Jahrhunderts? Oder im Berlin der 1980er? Und warum musste das Schicksal der Hauptfigur so fies mitspielen?

Übrigens gibt es tatsächlich auch Dinge, die Germanisten nicht über Bücher wissen – und nur der Autor. Was wir alles in einem Roman NICHT lesen, zum Beispiel - weil es beim Schreiben wieder verworfen wurde.

Gemeinsam Bücher erleben

Kinder lieben es, vorgelesenzu bekommen. Und jede Menge  Erwachsene auch. Das  weiß jeder, der schon mal versucht hat, Tickets für die LitCologne zu bekommen. Und darum geht es ja schließlich auch: Gemeinsam Bücher zu erleben.

Denn Lesen ist ja zunächst mal sehr einsam: Das völlige Versinken in eine Geschichte, der ganz eigene Phantasie-Film dazu. Mit dem Gespräch über Bücher öffnet sich eine neue Dimension. Und sei es auch nur, um sich gegenseitig zu versichern, wie toll dieser Roman, wie grandios dieser Autor oder diese Autorin ist.

Je länger der Lockdown dauert, desto schmerzlicher spüren wir den Verlust: Kein Theater, keine Konzerte, keine Lesungen. Bei uns in der Kulturredaktion ist die Sehnsucht besonders groß – schließlich lieben wir kulturelle Veranstaltungen. Warum? Davon wollen wir in dieser Serie erzählen.

Das Sprechen über Bücher ist immer auch ein Sprechen über unsere Gesellschaft. Darüber, wie wir leben wollen. Und warum wir daran scheitern – wie so viele Romanfiguren mit uns.

Es ist sehr stumm in den letzten Monaten geworden in den Buchhandlungen, im Literaturhaus, in den Sälen und Bibliotheken dieser Stadt. Ja, es gibt viele wirklich  tolle digitale Angebote. Aber das ist einfach nicht dasselbe. Was mir fehlt? Lesungen!

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