Ausstellung im Kunstmuseum BonnWie viel Weltende steckt in unserer Gegenwart?

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Eine Frau mit grüner Haut, roten Wangen und blauem Turban schaut den Betrachter an.

Alexej von Jawlenskys „Helene mit blauem Turban“ ist derzeit im Kunstmuseum Bonn zu sehen.

Das Kunstmuseum Bonn vergleicht unsere Krisenzeit mit den Anfängen des 20. Jahrhunderts. Wiederholt sich die Geschichte in der Kunst?

Manchmal geht die Welt mit einem lauten Knall zugrunde, manchmal mit einem Wimmern und in Deutschland fliegt dem Bürger bei dieser Gelegenheit „vom spitzen Kopf der Hut“. Jakob von Hoddis‘ berühmtes „Weltende“-Gedicht aus dem Jahr 1911 hat sich seinen erstaunlich übermütigen Schrecken bis auf den heutigen Tag bewahrt: Wieder hallt es in allen Lüften von Geschrei, wieder steigt die Flut, und natürlich haben die meisten Menschen einen Schnupfen. Dass nicht die Meere an Land hüpfen, sondern das Land im Regen versinkt, mag als künstlerische Freiheit durchgehen. Aber auch der Meeresspiegel steigt und steigt.

Das Kunstmuseum Bonn sucht Parallelen zwischen heute und der Zeit der Weimarer Republik

Natürlich durfte das „Weltende“ nicht in der Sammlung expressionistischer Gedichte fehlen, die 1919 unter dem Titel „Menschheitsdämmerung“ erschien – und deren Kapitelüberschriften die Kuratorin Stefanie Kreuzer für ihre gleichnamige Ausstellung im Bonner Kunstmuseum übernahm. Sie beginnt mit „Sturz und Schrei“ und schließt mit „Aufruf und Empörung“, doch was nach einer Reise ins historische Pathos klingt, ist für Kreuzer eine Brücke in die Gegenwart. Sie zeigt aktuelle Werke neben Arbeiten der klassischen Moderne und sucht, schreibt sie im Katalog, „in der Gegenüberstellung nach Parallelen und Differenzen, Weiterentwicklungen und Konflikten“.

Den aktuell beliebten Vergleichen zwischen der Weimarer und unserer Berliner Republik gibt Kreuzer damit einen kunstgeschichtlichen Dreh – und lässt sich zugleich mehrere Hintertüren offen. Es liegt schließlich in der Natur solcher Vergleiche, vor allem nach Parallelen zu suchen, sonst könnte man sich die Mühe sparen. Historische Kurzschlüsse möchte sich Kreuzer aber offenbar auch nicht nachsagen lassen und bleibt daher im Zweifelsfall lieber im Ungefähren. Oder freundlicher formuliert: Ihre Ausstellung über die „Kunst in Umbruchzeiten“ ist eine Einladung zu verknüpfenden Denken und Sehen. 

Ein Mensch als Collage aus verschiedenen Stoffen.

„Fade“ schuf Tschabalala Self im Jahr 2019. Das Bild ist Teil der Ausstellung „Menschheitsdämmerung“.

Im „Sturz und Schrei“-Raum zieht sich die erste assoziative Bilderkette über eine ganze Wand. Hier spricht William Straubes „Verwundeter“ zu den „Gefangenen“ von Käthe Kollwitz, ein „Gefällter Baum“ von Hans Thuar wird zum Vorboten einer von Marie von Malachowski-Nauen als Höllensturz skizzierten „Verdammnis“, Franz M. Jansen sieht in den Städten „Überall Mord“ und in August Mackes „Weltuntergang“ von 1913 scheinen die Schrecken der Schützengräben durch einen zeichnerischen Wirbelsturm vorweggenommen. Zu diesen mal ahnungsvollen, mal erfahrungssatten Darstellungen eines vom Weltkrieg geprägten Lebensgefühls stellt Kreuzer monumentale Arbeiten aus unserer Zeit: eine Gruppe brüchiger, antike Säulen zitierende Betonstelen von Monika Sosnowska, eine von Rebekka Benzenberg mit „Too Much Future“ bemalte Leinwand aus Pelzmänteln, oder auch zwei Wandteppiche, auf denen Grace Ndiritu westliche Museumsmitarbeiter zeigt, die vor Artefakten aus den ehemaligen Kolonien posieren.

Während in den Betonsäulen eine zeitlose Symbolik liegt (jede Zivilisation ist vergänglich), illustrieren die anderen Arbeiten aktuelle, wenngleich schon länger geführte Debatten um Tierrechte, Kolonialismus und die Rückgabe geraubter Artefakte. Schlägt man von hier die Brücke zu den Werken der klassischen Moderne, ergibt sich das Bild einer europäischen Kultur, die mörderische Kriege gegen andere und sich selbst führt, deren Wohlstand auf der rücksichtslosen Ausbeutung von Menschen und Ressourcen beruht und die sich letztlich selbst zerstört. All dies sind keine neuen Erkenntnisse. Aber sie haben, wie auch diese Ausstellung zeigt, eine neue Dringlichkeit bekommen. Vielleicht sind wir tatsächlich an einem Punkt angekommen, an dem wir begreifen, dass es so wie bisher nicht weitergehen kann.

Louisa Clement baut lebensechte Puppen ihrer selbst als Antwort auf männliche Fantasien

Mit diesem vagen Gefühl betritt man den zweiten Raum, das zweite Kapitel der neu interpretierten „Menschheitsdämmerung“. Die dort hinterlegte Aufforderung „Liebe den Menschen“ münzt Kreuzer auf die modernistische Porträtkunst um. Bei Alexej von Jawlensky trägt ein „Mädchen mit niedergeschlagenen Augen“ ihre Schüchternheit wie eine Maske zur Schau, beim rheinischen Expressionisten Heinrich Campendonk ist die Identität eines Mannes aus lauter ausschnitthaften Einzelteilen zusammengesetzt.

Solche Ich-Zergliederungen bilden heute die Grundlage, um sich überhaupt ein realistisches Bild vom Menschen machen zu können; bei den collagehaften Porträts von Tschabalala Self, Anys Reiman oder Deborah Roberts dienen sie freilich dazu, sich kulturellen Zuschreibungen wie dem männlichen Blick zu entziehen. Keine einfache Sache, wie man bei Louisa Clement sieht. Die Bonner Künstlerin baut lebensechte Puppen ihrer selbst, die vielleicht nicht so unheimlich wirken wie von ihr gedacht, aber die Erschaffung der Frau aus dem Geist der männlichen Fantasie im feministischen Sinne neu interpretieren.

Die folgende „Erweckung des Herzens“ ist vornehmlich unserem widersprüchlichen Verhältnis zur Natur gewidmet. Eine paradiesische Gartenszene von August Macke dient als Einstimmung, Andrea Bowers antwortet mit gemalten Blättern und Zweigen, die sich über mutmaßlich holzhaltige Pappen ranken; mithilfe eines verschnörkelten Schriftzugs beschwört sie uns, in der Natur keine Ressource, sondern eine Verwandte zu sehen. Von der Decke hängen derweil von Bowers' elektrifzierte Zweige; sie leuchten wie Lichterketten, aber immerhin in herbstlichen Tönen. Auf Nevin Aladags Teppichcollagen geht der mit Blumenmustern beschworene Garten Eden dann endgültig in der Sphäre industrieller Massenfertigung auf.

Verstehen wir unsere Welt durch solche Vergleiche besser? Oder sehen wir nur, was wir ohnehin schon wissen? Stefanie Kreuzer erliegt nicht der Versuchung, Analogien zu erzwingen – in den letzten 100 Jahren ist schließlich einiges geschehen, was uns von den Expressionisten trennt. Aber eines erkennt man doch: Die schöpferische Zerstörung, die den Kapitalismus antreibt, prägt auch den Fortschritt in der modernen Kunst. Nichts bleibt, wie es ist, aber nichts geht ganz verloren.

Am Ende kehrt die Ausstellung zum Anfang zurück. Das Kapitel „Aufruf und Empörung“ reiht Bilder von Gewalt und Zerstörung aneinander, aber Kreuzer will uns offenbar mit einem Hoffnungsschimmer ins drohende Weltende entlassen. An einer Wand leuchtet der Schriftzug „Patriarchy is History“, das Patriarchat ist Vergangenheit. Yael Bartana versteht ihre Feststellung als Vorahnung. In dieser besseren Zukunft wäre dann wenigstens der Krieg der Geschlechter beigelegt.


„Menschheitsdämmerung. Kunst in Umbruchzeiten“, Kunstmuseum Bonn, Museumsmeile, Di.-So. 11-18 Uhr, Mi. 11-21 Uhr, bis 18. Februar. Der Katalog zur Ausstellung kostet 37 Euro.

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