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Lisette ModelSie fand das Schöne dort, wo andere nicht hinschauten

4 min
Eine Frau liegt am Strand und schaut in den Himmel.

„Coney Island Bather, New York“ von Lisette Model ist derzeit in der Kölner Galerie Julian Sander zu sehen.

Lisette Model gehörte zu den ersten großen Straßenfotografinnen. In der Kölner Galerie Julian Sander ist eine Auswahl ihres Werks zu sehen.

Sechs Monate, nachdem sich Frankreich Hitler ergeben hatte, brachte die New Yorker Tageszeitung „PM“ eine wenig zimperliche Fotoserie heraus. Sie hieß „Why France Fell“ und erklärte die französische Kapitulation mit Aufnahmen wohlhabender Bürger, die auf der Promenade von Nizza satt und zufrieden in Stühlen liegen. Die Aufnahmen hatte die junge, aus Wien stammende Fotografin Lisette Model bereits 1934 gemacht, nicht, um eine angeblich vom Reichtum korrumpierte Bourgeoisie bloßzustellen, sondern um mit der Kamera zu üben. Allerdings suchte sich Model ihre Versuchskaninchen nicht zufällig auf der Straße. Hier fand sie das Aufregende, Ungewöhnliche und Feiste, das sie im Fotoatelier vermisste.

1938 war Lisette Model in die USA emigriert und hatte aus Europa eine langlebige Verachtung für den guten Geschmack und das gediegene Handwerk mitgebracht. In der New Yorker Zeitungsbranche fand sie Gleichgesinnte wie Ralph Steiner, den „PM“-Fotoredakteur, und Arthur „Weegee“ Fellig, der dafür berühmt war, immer zuerst an einem Tatort zu sein und dessen Schrecken mit grellem Blitzlicht auszuleuchten. Sie trafen sich in einer schummrigen Kneipe, wo Model noch dankbarere Versuchskaninchen fand als an der französischen Riviera: Seeleute, Trinker, Prostituierte – und Abenteurer wie sie selbst.

Eine Sängerin wird aus der Untersucht gezeigt.

Lisette Models „Café Metropole, New York“ (zirka 1946)

Am 30. Oktober kehrt das Werk der 1983 verstorbenen Model mit einer großen Retrospektive zurück nach Wien. Ein stattlicher Teil der Leihgaben für die Albertina kommt aus der Kölner Galerie von Julian Sander, dessen Vater die Fotografin in seiner New York Galerie vertreten hatte und für sie etliche neue Abzüge anfertigte. Für den Sohn war dies der Anlass, die Model-Arbeiten auch selbst ins Schaufenster zu stellen. Seine Ausstellung ist eine kleine, auf die „klassischen“ Jahre konzentrierte Werkschau, die auf der Promenade von Nizza beginnt und 1949 mit einer Kriegsgewinnlerin endet, die in San Francisco auf einer Sitzbank vom anstrengenden Reichsein ausruht.

Zwischen diesen Jahren entstanden Fotografien, von denen sich ihre späteren Schüler Larry Fink, Rosalind Fox Solomon und vor allem Diane Arbus manches abschauten. Wie diese interessierte sich Model nicht für das Schöne, oder sie fand es dort, wo andere nicht einmal suchten: in ihrer Stammkneipe, auf der Straße oder am Strand von Coney Island. Hier entstanden ihre ikonischen Aufnahmen einer übergewichtigen Badenden, die sich offensichtlich mehr als wohlfühlt in ihrer Haut. Wie Arbus wurde auch Model verdächtigt, sie wolle die Menschen dem Spott preisgeben und die Großstadt als Bühne des Hässlichen denunzieren. Dabei war ihr lediglich das mittlere Maß ein Graus.

Übertreibung machte das Leben für Lisette Model erst fotogen

Bei den Reichen und Armen fand sie jene „Übertreibung“, die das Leben für sie erst fotogen und interessant machte. Dafür ging sie auf Modeschauen, um ältere Damen im Publikum zu fotografieren, oder sie näherte sie einem Mann ohne Beine, der, auf zwei Holzstümpfen stehend, um Almosen bettelt. An New York begeisterte sie das ständige Kommen und Gehen, der endlose Nachschub an Menschen und Motiven, an den Kneipen die Mischung aus Schauspiel und Intimität. Julian Sander zeigt in Köln eine Folge heimlicher Pärchen, aber der Höhepunkt seiner Auswahl ist eine wie elektrisch aufgeladene Sängerin im Café Metropol. 

Im New Yorker Straßenleben fand Model auch eine abstrakte Seite. Auf Höhe des Bordsteins fotografierte sie „Running Legs“, laufende Beine, die sie gleichsam aus der Perspektive einer Niedergetrampelten aufnahm, und die Schaufenster der Geschäfte inszenierte sie als Spiegelbilder der Konsumgesellschaft. Während das Glas die Häuser reflektiert, sind die Menschen oft nur Schatten. Auf einer Aufnahme am Rockefeller Center züngeln sie wie schwarze Flammen an der Scheibe empor.

Lisette Model sah die handwerklichen Mängel ihrer Bilder als Qualität. Sie fotografierte teils, ohne durch den Sucher zu sehen, machte übergroße Abzüge, um die Grobkörnigkeit der Aufnahmen zu betonen, und rühmte sich, ihre Negative „im Laden um die Ecke“ entwickeln zu lassen. In den 1970er Jahren versuchte Gerd Sander, ihr trotzdem bessere Abzüge abzutrotzen – zum Glück, wie man heute sagen kann. An einer Wand der Galerie hängen zwei Prints nebeneinander: Der eine ist übersät mit Kratzern, der andere freundlich retuschiert. Natürlich erscheinen Models Bilder durch die Nachhilfe etwas glatter. Aber ihr Geist bleibt konserviert.


„Model – Photographs from the Gerd Sander Collection“, Galerie Julian Sander, Bonner Str. 82, Köln, Mi.-Fr. 10-18 Uhr, Sa. 12-16 Uhr, verlängert bis 20. Dezember 2025