Ausstellung im Museum SchnütgenDie bucklige Verwandtschaft der Heiligen Familie lebt in Köln

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Ein Flügel eines Dyptichons mit Szenen aus der Passion Christi und der Flügel eines Dyptichons mit der Krönung Mariens Köln sind im Museum Schnütgen zu sehen.

Zwei mittelalterliche Elfenbeinschnitzereien sind als Neuerwerbungen im Kölner Museum Schnütgen zu sehen.

Das Museum Schnütgen präsentiert seine Neuerwerbungen und setzt sich für die verlorene Ehre der Kölner Elfenbeinschnitzer ein. 

Die moderne Mittelalterforschung hatte lange keine hohe Meinung von den Kölner Meistern der Elfenbeinschnitzerei – oder von den Kölner Frauen. Schielte eine holde Jungfrau oder hatte sie ein Hinkebein, stand das Urteil felsenfest: Dieses Werk musste in Köln entstanden sein. Paris war die Heimat christlicher Anmut; die bucklige Verwandtschaft der Heiligen Familie lebte jenseits des Rheins.

Es versteht sich beinahe von selbst, dass einen Kölner Museumsdirektor diese Herabsetzung nicht ruhen lässt, zumal einen derart umtriebigen wie Moritz Woelk. Sein Museum Schnütgen besitzt eine Sammlung mittelalterlicher Bilder, Skulpturen, Kleinode und Schnitzereien, die sich zum Großteil aus einheimischen Kirchen und Häusern speist und auf deren Qualität Woelk ungern etwas kommen lässt. Im Herbst 2026 will Woelk mit einer großen Ausstellung den Beweis antreten, dass sich das gotische Köln in vielerlei Hinsicht mit Paris messen konnte – und im direkten Vergleich mitnichten so schlecht dasteht, wie man es noch vor  einigen Jahrzehnten sah.

Zwischen Paris und Köln gähnt künstlerisch kein Abgrund mehr

Einen Vorgeschmack auf diese kölnische Ehrenrettung (die sich glücklicherweise mit den Erkenntnissen der aktuellen Forschung deckt) bietet jetzt die Präsentation einiger mittelalterlicher Elfenbeinschnitzereien. Sie konnten in den vergangenen drei Jahren vom Museum Schnütgen erworben werden, darunter eine Marienkrönung aus Köln und eine Passion Christi aus Pariser Produktion. In der kleinen Ausstellung teilen sich beiden Stücke eine Vitrine und wären in einem Verleumdungsprozess die Beweisstücke eins und zwei.

In der Vorstellung der klassischen Mittelalterforschung gab es ein kulturelles Zentrum, das auf die Peripherie ausstrahlte, ohne dass seine künstlerischen Leistungen dort jemals zu erreichen gewesen wären. Im Grunde gilt diese Lesart bis heute, doch sieht man die Gegensätze in einem milderen Licht. Zwischen Paris und Köln gähnt kein Abgrund mehr, zumal nicht während der ersten Bauphase des Kölner Doms. Im Mittelalter waren Kathedralen große Konjunkturprogramme, die Handwerksmeister und deren Wissen in die Stadt brachten und die heimische Produktion ankurbelten. Gerade im gotischen Köln lassen sich etliche Stilimporte nachweisen, die fruchtbare oder auch mal eher kuriose Verbindungen mit lokalen Traditionen und Vorlieben eingingen.

Der Louvre winkte ab, deshalb kam das Kölner Museum zum Zug

Auch die Kölner Marienkrönung ist ein solches Meisterwerk aus Frankreich eingeschleppter Schnitzkunst. Sie entstand wohl um 1350 als linker Flügel eines Diptychons, das man in der Tasche mitführte und aufklappte, wenn einen die christliche Schwermut überkam. Das Relief zeigt die Muttergottes mit Kind, zwei Leuchter-Engel und einen weiteren Engel, der von oben herabschwebt, um Maria zu bekrönen. Alles sitzt an der richtigen Stelle, weshalb man dieses ebenmäßige Andachtsbild früher wohl einem Pariser Meister zugeschrieben hätte. Heute gelten die über die Ohren wallenden Locken der Engel als original kölnische Zutat; sie verraten die wahre Herkunft dieser betörenden Schnitzerei.

Noch etwas feiner gearbeitet ist die aufklappbare Elfenbein-Passion, die zwischen 1280 und 1300 in Paris entstand. Sie zeigt drei Szenen einer sechsteiligen Leidensgeschichte Jesu, deren andere Hälfte im Besitz des Louvre ist. Auf der Kölner Neuerwerbung stechen eine einfallsreiche Geißelung und eine ungewöhnlich lebendige Kreuzigung hervor. Am Ende steigt Jesus auf der Suche nach Adam und Eva so entspannt in die Unterwelt hinab, als wolle er ein Bad nehmen.

Beide Werke kamen durch maßgebliche Mithilfe privater Spender in die Schnütgen-Sammlung. Das Marienbild ist eine Dauerleihgabe der Peter und Irene Ludwig Stiftung, die Passions-Kosten teilten sich die Stadt und die Ernst von Siemens-Kunststiftung. Die zuletzt genannte Anschaffung war offenbar ein besonderer Glücksfall, weil der Louvre abwinkte (die Passion wurde auf der Messe Tefaf in Maastricht angeboten) und ein Teil des Mittelalter-Marktes wegen der verschärften Elfenbein-Importverbote der USA zusammengebrochen ist. Ansonsten hätte der Einsatz von rund 500.000 Euro (für beide Anschaffungen) wohl nicht gereicht.

Die Präsentation der Elfenbein-Schnitzereien wird durch drei weitere Neuzugänge und zwei „passende“ ältere Sammlungsstücke komplettiert. Aus Privatbesitz kam ein französischer Marientod mit barockem Rahmen, zwei Spiegelkapseln mit höfischen Liebesszenen erweitern den christlichen Horizont. Eine ältere Verkündigung zeigt schließlich, dass manches auf dem Weg von Paris nach Köln wohl doch verloren ging (und dann frei ergänzt wurde). Statt eines Engels liegen der armen Jungfrau Maria gleich zwei in den Ohren. Ganz bibelfest war der Kölner Schnitzer scheinbar nicht. Oder er folgte dem Motto „Viel hilft viel“. Bei ihm kommt die frohe Botschaft in Stereo.


„Neuerworbene Elfenbeinschnitzereien aus der Zeit der gotischen Kathedralen“, Museum Schnütgen, Cäcilienstr. 29-33, Köln, Di.-So. 10-18 Uhr, Do. 10-20 Uhr, bis 7. Juli 2024

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