Comeback-AlbumWie Stromae die Welt erobern will, die Kölner Lanxess-Arena inklusive

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Der belgische Weltstar Stromae 

Brüssel – Anne-Claire Coudray hat schon eine Weile mit Stromae geplaudert, als die französische Moderatorin den belgischen Sänger fragt, inwieweit die Musik ihm geholfen habe, seine Einsamkeit zu überwinden. Stromae sitzt ihr gegenüber, dunkelblauer Anzug, dunkelblaue Strickkrawatte, die Haare streng nach hinten gebunden, seriös, wie es sich für die Abendnachrichten auf Télévision Française 1 gehört.

Er befeuchtet seine Lippen. Dann: ein Klavierakkord in Moll. „Ich bin nicht ganz allein, mit dem Alleinsein“, hebt er zur gesungenen Antwort an. Er singt von Selbstmordgedanken, von Stimmen, die einem das Leben zur Hölle machen. Hinter ihm dreht sich das Pariser Panorama des „Journal de 20 heures“ und langsam entsättigen sich dessen leuchtende Farben.

Das Jahr ist noch jung, noch spricht niemand von Krieg. Am nächsten Tag wird Stromaes Auftritt in den frankofonen Zeitungen als Sensation gehandelt. Weil der Musiker damit ein neues Album ankündigt hat, nachdem er sich acht Jahre lang aus der Öffentlichkeit zurückgezogen hatte. Weil er offen von Dingen singt, über die man sonst schweigt. Auch: weil hier die journalistische Form forsch verletzt wurde. Eine Werbeblock inmitten nüchterner Fakten, schäumen manche Kommentatoren.

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Das Verwirrspiel mit den Formen hat Paul Van Haver – sein Künstlername ist eine jugendsprachliche Verballhornung von Maestro – schon immer beherrscht. Seine erste Single „Alors en danse“ stand vor zwölf Jahren in praktisch jedem europäischen Land auf dem Spitzenplatz der Charts, für den amerikanischen Markt gibt es einen Remix mit Kanye West. In Deutschland war es die erste französischsprachige Nummer Eins seit France Galls „Ella, elle l’a“.

Warum „Alors en danse“ kein Urlaubshit ist

Und zumindest hierzulande wurde der Song als (etwas unterkühlt-housiger) Urlaubshit rezipiert, obwohl Stromae darin das gesamte Elend des zeitgenössischen Lebens aufzählt, gefolgt von der ernüchternden Erkenntnis, dass man die Verhältnisse eben nicht so einfach zum Tanzen bringen kann.

Solche Missverständnisse waren durchaus beabsichtigt und bis heute pflegt Van Haver einen maximalen Eklektizismus, was man jetzt auf seinem neuen, dritten Album „Multitude“ nachhören kann: Hier treffen bulgarische Frauenchöre auf brasilianischen Baile-Funk, ruandische Rhythmen auf chinesische Röhrenspießlauten. Dazu Morricone-Schreie und tiefer gelegte Hip-Hop-Bässe. Freilich könnte sich solche Zutaten heutzutage jeder in wenigen Stunden via Youtube zusammenklicken – und würde wohl doch nur einen weltmusikalischen Eintopf zustanden bringen, der vor allem nach Dose schmeckt.

Der Sound der ganzen Welt in Brüssel

Ob Stromae nun all diese Einflüsse, wie er es Anne-Claire Coudray erzählt hat, auf globetrottenden Rucksacktouren mit seiner reiselustigen Mutter eingesogen hat, oder sie schlicht den Nachbarskindern im heimischen Brüssel abgelauscht hat, vom kongolesischen Rumba über Son Cubano bis zu französischen Chansons: Diese Weltmusik berichtet jedenfalls von der Welt in ihm, von den titelgebenden Mannigfaltigkeiten, die seine schmale Gestalt verbirgt.

Und so gibt es auf „Multitude“ kein Lied und keine Idee, die nicht mit scharf umrissener Klarheit formuliert wären. Stromae beherrscht die hohe Kunst, Popsongs zu schreiben, die einerseits Krippenkinder nachträllern können, die andererseits aber die inhaltliche Tiefe seines Landsmannes, des großen Jacques Brel, erreichen.

Die Tiefe von Jacques Brel

Denn wovon handeln dieser Lieder? Sie handeln wie „Invaincu“ von einer Seuche – könnte Covid sein, oder die Depressionen, die er in den vergangenen Jahren durchlitten hat –, der sich der Sänger nicht beugen will. Von Männern, die trotz aller Liebesfloskeln doch nur sich selber lieben. Vom Sohn einer Prostituierten, der die Kunden, Zuhälter und Polizisten konfrontiert, die das Leben seiner Mutter bestimmen („Fils de joie“). Vom eigenen Kind, dessen Windeln er glücklich wechselt, das ihn bald bewundern und kurz darauf verachten wird („C’est que du bonheur“).

Oder sie prosten wie „Santé“ Menschen zu, die noch kein Dance-Track zuvor gefeiert hat, denen nämlich, die nach der großen Party die Gläser wegräumen und die Toiletten putzen.

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Auch von den Träumen kleiner Migrantenkinder. Der eine sieht sich als Grammy-Gewinner mit Villa und Swimmingpool. Der andere kann sich keine Träume leisten, so lange ihm die Ausweispapiere fehlen. Stromae selbst ist ohne seinen Vater aufgewachsen, ein Tutsi, der in Ruanda den dortigen Völkermorden zum Opfer fiel.

Die beiden letzten Stücke auf „Multitude“ handeln erneut von den Herausforderungen des Alltags, wie schon „Alors en danse“. Spiegelbildlich beschreibt Stromae einen schlechten und einen guten Tag, gelebt werden wollen sie beide. Und mit diesem im doppelten Sinne welthaltigen Album lassen sie sich noch eine ganze Weile aushalten.

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