Neues von Big Thief, Mitski, YeuleDas Pop-Jahr nimmt endlich Schwung auf

Lesezeit 4 Minuten
Neuer Inhalt (5)

Die amerikanisch-japanische Sängerin Mitski 

Köln – Das Crescendo, in dem der Big-Thief-Song „Not“ in der Kölner Kantine endete, hallt in mir bis heute nach. Das Konzert der Band aus Brooklyn um die Sängerin, Gitarristin und Songschreiberin Adrianne Lenker im März 2020 war mein letztes vor dem Lockdown. Man hatte es zwar schon mit etwas mulmigen Gefühl besucht, doch dass diesen finalen Akkorden zwei Jahre der kulturellen Verelendung – zumindest was den Live-Musik-Betrieb betrifft  – folgen würden, konnte keiner ahnen.

Die Band brach ihre Europatournee ein paar Tage später ab, Lenker saß die erste Zeit der Pandemie liebeskrank in einer Blockhütte in den Wäldern des westlichen Massachusetts aus und veröffentlichte gleich zwei Soloalben.

Überhaupt war es Zeit für eine Zäsur: 2019 hatten sie gleich zwei meisterliche Alben veröffentlicht: Das psychedelisch versponnene „U.F.O.F.“ und das irden-tiefschürfende „Two Hands“. Was tun, wenn man zwei künstlerische Statements abgegeben hat, die konziser nicht sein könnten?

Eine Antwort, so alt wie die Beatles

Die Antwort darauf ist so alt wie das „Weiße Album“ der Beatles: Es ist Zeit für das stilistisch ausufernde, an den Rändern ausfransende Doppelalbum. „Dragon New Warm Mountain I Believe In You“ kündet schon im Titel von seiner Mehr-ist-mehr-Philosophie.

Was nicht heißt, dass sämtliche zur Verfügung stehenden Tonspuren benutzt wurden, ganz im Gegenteil, die Band klingt durchlässiger als je zuvor. Ja, die 20 Songs variieren stark in Instrumentierung, Drum-Maschinen, Akkordeons, Maultrommeln und Eiszapfen (!) feiern hier ihr Big-Thief-Debüt – aber was hier wirklich aus dem Füllhorn schäumt, ist Lenkers Liedkunst.

Neuer Inhalt (5)

Adrianne Lenker, Sängerin und Songschreiberin von Big Thief, in Köln 

Die ist große amerikanische Naturmystik, in einer Reihe mit Thoreaus „Walden“, Whitmans „Grashalmen“ oder John Muirs kalifornischen Bergen. Man kann sich wochenlang in diesem Album verlieren, den Ausgang erreicht man auf jeden Fall als freierer Mensch.

Mitski Miyawaki war der Pandemie zuvorgekommen: Ende 2019 verabschiedete sich die Musikerin mit japanisch-amerikanischen Wurzeln still und leise von der Branche, just als ihre Träume sich erfüllt hatten: Mit ihrem Album „Be the Cowboy“ war ihr der Durchbruch gelungen. Sie konnte jetzt von ihrer Musik leben und wenn sie eine Bühne betrat, versammelten sich überall auf der Welt hunderte von Fans.

Aber glücklich machte sie das nicht. Kurz nach ihrem letzten Konzert schriebt sie den Song „Working For the Knife, darin singt sie: „Ich dachte immer, es wäre meine Entscheidung/ Und ich hatte recht, ich entschied mich nur falsch.“

Neuer Inhalt (5)

Mitski 

Das Stück findet man nun auf Mitskis sechstem Langspieler „Laurel Hell“. Der banale Grund für dessen Existenz: Sie schuldete ihrer Plattenfirma Dead Oceans vertraglich noch ein Album. Das habe sie freilich, bekennt sie in gleich mehreren Interviews, nur für sich aufgenommen, ohne an das Publikum zu denken, welches sie mit Be the Cowboy“ gewonnen hatte.

Was paradoxerweise zu Songs geführt hat, in denen sie sich so ungeschützt gibt wie nie. Die Zahl der Lieder, in denen einer/einem Verflossenen allerhand Vorwürfe gemacht werden, ist Legion, Mitski aber klagt sich auf „Laurel Hell“ unentwegt selbst an, sie sei der einzige Herzensbrecher in ihren Beziehungen. Im Video zu „The Only Heartbreaker“ geht alles, was sie berührt in Flammen auf, bis schließlich die ganze Welt zum Feuerball wird. Sie ist der König Midas der Schmerzen.

Grelle Keyboardflächen

Angeblich hat Mitski das Album zuerst als Punkplatte geplant (was zur Radikalität ihrer Selbstkritik passt), schwenkte dann zu Country um (schließlich ist die Steel Guitar der Klang einsamer Herzen) – entschied sich letztlich aber für die hellen, grellen, mächtig pushenden Keyboardflächen der Yamaha-DX7-seligen 1980er.

Manche Kritiker bemängelten deshalb die gedämpfte, anonymere Stimmung von „Laurel Hell“. Es soll ja auch Menschen geben, die in Abba-Songs keine Verzweiflung spüren können. Das Publikum hat sowieso entschieden: Mitskis Versuch, es hinter sich zu lassen, ist gescheitert: „Laurel Hell“ ist derzeit die fünftmeistverkaufte Platte in den USA: Isolation ist Mainstream. 

Neuer Inhalt (5)

Yeule

Von solchen Durchbrüchen in den Massengeschmack ist Yeule, 24-jährige Künstlerin aus Singapur, noch ein paar Verwertungszyklen entfernt. Umso faszinierender ist der Blick in ihre Welt, in der sämtliche Gefühle und Obsessionen längst in die Cloud hochgeladen worden sind.

Yeule wurde als Natasha Yelin Chang geboren und nennt sich als Transperson inzwischen Nat Ćmiel, aber auf ihrem Album „Glitch Princess“ klingt ihre elektronisch manipulierte Stimme wie ein jüngst zu Bewusstsein erwachtes Betriebssystem.

Das könnte Sie auch interessieren:

Yeule bezeichnet sich selbst als Cyborg. Da ist sie – im Zuge von Donna Haraways einflussreichen feministischen Cyborg-Manifest aus dem Jahr 1985 – nicht die erste: Spontan fallen mir etwa Björk, Robin, Janelle Monáe, Grimes und selbst Christina Aguilera („Bionic“, 2010) ein. Aber noch niemand hat das menschenmaschinelle Interface so überzeugend verkörpert wie Yeule. Ziemlich romantisch ist „Glitch Princess“ übrigens auch.

KStA abonnieren