Neues AlbumWarum Lana Del Rey die Kapitol-Stürmer verteidigt

Lana Del Rey
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Los Angeles – Weder unglücklich sei sie, noch aus dem Ruder gelaufen, singt Lana Del Rey im Titellied ihres neuen Albums „Chemtrails Over the Country Club“. Stattdessen: „Ich bin einfach nur wild.“
Der Rest des Songs malt ein sanft verstörendes Bild amerikanischer Weltentrücktheit. Juwelenbehangen driftet die Ich-Erzählerin im Swimmingpool ihres Country Clubs. Weiße Kondensstreifen teilen den blauen Himmel. „Chemtrails“, nennt sie die Badende, den Verschwörungsmythos halluzinierend, demzufolge Flugzeuge vor aller Augen giftige Chemikalien ausstoßen, mit denen böse Regierungseliten das Saatgut vergiften, um die Bevölkerung zu reduzieren.
Der Erzählerin liefern die suspekten Wolken einen willkommenen Anlass, über Gott nachzusinnen und darüber, was normal ist und warum man sich zwischen Elterncafé und Supermarkt immer noch im Herzen wild fühlen kann.
Die wollen nur toben
„Wild“ ist das Schlüsselwort. Wenige Tage nach dem Sturm auf das Kapitol versuchte sich Lana Del Rey in einem Radiointerview an einer Innensicht der aufständischen Horden: Nicht Trump, sondern eine von allen Verhältnissen losgelöste Raserei sei es, die die Leute in den Sitz des Kongresses getrieben habe. „Sie wollen sich irgendwo austoben! Wir finden in unserer Welt keine Möglichkeiten mehr wild zu sein. Und gleichzeitig ist die Welt so wild. “
Das klingt, als sei bei Del Rey doch etwas aus dem Ruder gelaufen und erinnert an den Eklat, den Karlheinz Stockhausens wenige Tage nach den Anschlägen vom 11. September 2001 ausgelöst hatte, als er diese als „das größte Kunstwerk, was es je gegeben hat“ bezeichnete.
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Doch wo sich der Komponist in seiner Privatmythologie verrannt hatte, könnte die Songschreiberin einer Wahrheit über die marodierenden Männer in ihren atavistischen Kostümen, über den dunklen, anarchischen Riss im „Heartland“ der Vereinigten Staaten auf der Spur sein.
Auf ihrem siebten Album singt Del Rey nun mit hochgepresster Stimme von den eigenen Unschuldstagen als weißgewandte Kellnerin in Orlando, Florida und wendet sich erstmals auch vom bisherigen Fluchtpunkt ihrer Obsessionen, dem sonnigen Moloch Los Angeles, ab und dem Mittleren Westen zu. Ihr Produzent Jack Antonoff hat den folkigen Songs jenen geisterhaften Hauch verpasst, den er zuvor auf Taylor Swifts „folklore“ perfektioniert hatte. Del Rey reist in ihnen imaginär durch Staaten, die sie sonst nur überfliegt, Arkansas, Nebraska und Oklahoma.

Loretta Lynn
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Wie es zwischen den Küsten wirklich klingt, kann man auf „Still Woman Enough“, dem ebenfalls neu erschienenen 50. (!) Studioalbum der Country-Ikone Loretta Lynn nachhören. Lynn wird in wenigen Wochen 89 Jahre alt, sie ist seit 55 Jahren Großmutter und feiert mit ihrer neuen Veröffentlichung auch den 50. Jahrestag ihres berühmtesten Album: „Coal Miner’s Daughter“.
„Still Woman Enough“ versammelt Neuinterpretationen ihrer größten Hits neben unsterblichen Klassikern des Genres und wäre an sich nicht weiter bemerkenswert, wenn sich Lynn, die vor knapp vier Jahren einen Schlaganfall erlitten hatte, hier nicht so unfassbar gut bei Stimme zeigte.
Befreite Sexualität
Zudem hat sie mit Tanya Tucker, Reba McEntire, Carrie Underwood und Margo Price gleich mehrere Generationen von Country-Sängerinnen in Johnny Cashs altes Studio in Tennessee eingeladen. Sie alle verehren Lynn für die Freimütigkeit, mit der sie in den 60er und 70er Jahren feministische Inhalte in die konservativen Country-Charts brachte, über befreite Sexualität dank der Pille sang, über trostloses Hausfrauendasein („One’s On the Way“, das Duett mit Price, ist besonders gelungen), über Doppelmoral und Vergewaltigung in der Ehe.
Gleichzeitig hat Lynn den Begriff Feminismus stets vehement abgelehnt und sich auf ihren Konzerten während der 2016er US-Wahl zur Freude ihres Publikums enthusiastisch für Donald Trump ausgesprochen.
Gegen jede Vernunft
Wie das zusammengeht? In etwa so gut, wie Lana Del Reys bewundernswertes Beharren auf künstlerische Eigenständigkeit mit ihrem verstörenden Beharren darauf, in einer Beziehung die Rolle des schwachen Geschlechts zu spielen. „Let me love you like a woman“, gurrt sie im gleichnamigen Song ihrem Partner über schwindsüchtigen Pianoakkorden zu, „let me hold you like a baby.“ So sanft käme bei Loretta Lynn kein Mann davon.
Doch das wilde Herz löckt eben gegen jede Vernunft. Auf Platte gebannt – ätherisch bei Del Rey, erdig bei Lynn – kann man sich Amerikas Wahn und Widersprüchen nur schwer entziehen.