Neues Buch aus KölnWie uns Diedrich Diederichsen das 21. Jahrhundert erklären will

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Diedrich Diederichsen bei der Ankunft zur Preisverleihung der Berlinale Summer Special 2021 / 71. Internationale Filmfestspiele Berlin

Der ehemalige Pop-Papst Diedrich Diederichsen ist heute für alles zuständig.

Kulturkritiker Diedrich Diederichsen machte einst als Chef der Kölner Pop-Bibel „Spex“ Furore. Jetzt hat er seine Zeitdiagnosen in einem wuchtigen Band versammelt.

Die Chuzpe muss man erst einmal haben: Seine über etliche Zeitungen, Fachmagazine, Kunstkataloge und Vortragsmanuskripte verstreuten Artikel aus den vergangenen 23 Jahren zu sammeln, thematisch zu ordnen, zwischen Buchdeckel zu pressen und mit dem größenwahnsinnigen – wie Diedrich Diederichsen selbst zugibt – Titel „Das 21. Jahrhundert“ zu versehen.

Dazu hat Kiepenheuer & Witsch seinem Stammautor – man ist sich seit dessen aufsehenerregenden Debüt „Sexbeat“ anno 1985 innig verbunden – die gleiche knallige Schwarz-Weiß-Optik verpasst, mit welcher der Kölner Verlag einst die deutsche Übersetzung von David Foster Wallaces „Unendlicher Spaß“ als den ganz großen Kulturbrocken beworben hat.

Diederichsens „Das 21. Jahrhundert“ enthält 173 Essays, von Britney Spears bis Biopolitik

Aber was soll man sagen? Die Anmaßung war damals gerechtfertigt, sie ist es auch heute. „Das 21. Jahrhundert“ enthält 173 Essays, vom launigen Einspalter bis zur weit ausholenden kulturhistorischen Zeitanalyse, zu völlig disparaten Themen. Die reichen nicht nur von Britney Spears bis zur Biopolitik, sie führen das einstige „Kindfrauwunder im Hauptstrom US-amerikanischer Popmusik“ und Foucault'sche Machtkonzepte auf vier Seiten schlüssig zusammen, im Original erschienen unter dem Titel „Biopolitik mit Britney Spears“, in der „Süddeutschen Zeitung“ im unendlich fernen Jahr 2000.

Gleich im ersten Satz des Vorworts poltert Diederichsen mächtig los, fährt unter anderem „die drohende Unbewohnbarkeit des Planeten“ und dessen ebenfalls drohende Verwaltung „durch eine global gewordene Bande neotraditionalistisch auftretender Faschist_innen“ auf – nur um noch im selben Satz charmant zurückzuziehen: Die kämen in diesem Buch nicht vor. Dafür aber, mehr oder weniger, die gesamte verwickelte Geschichte davor. Kein gerade Weg, der unweigerlich in den Abgrund führt, sondern eine mäandernder Pfad durchs Dickicht der Diskurse.

Man stößt auf Erhellendes zu David Bowie und Karlheinz Stockhausen

Wer versucht, sich hier stur von A nach B durchzuschlagen, wird unweigerlich die Orientierung verlieren. Will sagen: Die lineare Lektüre des Wälzers ist ein Ding der Unmöglichkeit, dieses Buch will nicht stur durchgeackert, sondern an immer wieder anderer Stelle aufgeschlagen werden. Ob man sich dabei das Register zu Hilfe nimmt, sich von den eigenen Interessen leiten lässt, oder wie ein Teilchen in absichtsloser Brownscher Bewegung durch die Textmasse zuckt, mal hier, mal da aneckt und überraschend die Richtung wechselt, das sei jedem selbst überlassen. Auf Erhellendes vom Fun Fact bis zur apodiktischen Aussage stößt man auf jeder Seite.

Diederichsen diagnostiziert sich selbst eine „modebesessene Neugier für neuartige Theorien und Bewegungen“, schließlich garantiere der Umstand, dass etwas in Mode ist, wenigstens „eine gewisse Mindestrelevanz“. Wenn der ehemalige „Spex“-Chefredakteur weiterhin beharrlich auf die nicht-existente Berufsbezeichnung „Poptheoretiker“ reduziert wird, liegt das auch daran, dass sein Geist immer dann aus der Flasche springt, wenn er sich am just Interessanten reibt, deshalb ist ja auch der Essay, der kurze Einwurf, seine Form der Wahl. Die hat den Vorteil, dass der Autor mit bloßen Behauptungen durchkommt: Entweder, schreibt er an einer Stelle, kenne man die erwähnten Beispiele eh schon, „oder man muss mir an dieser Stelle einfach glauben“.

Es ist ja auch viel Liebe im Spiel: zu Isa Genzken und Albert Ayler, zu René Pollesch, Claire Denis und David Bowie. Diederichsens Einsichten und Diagnosen reichen aber oft weit über den jeweiligen Anlass hinaus. Weil mit der reinen Marktorientierung niemand zu mobilisieren sei, spöttelt der Autor etwa in einem langen Text über die Kultur der neuen Mitte, suche der Umbau händeringend nach einem Überbau. Den habe man dann in der neuen Bürgerlichkeit als gegenkulturelles Projekt gefunden. Sei in der Abgrenzung von der Abgrenzung wieder bei der Norm gelandet: „Man ist jetzt etwas ganz Verbotenes: ein Bürger, härter als jede Avantgarde.“

Das war im Jahr 2004, 20 Jahre später treffen sich einige der alten neuen Bürger in einem Landhotel nahe Potsdam, während die anderen im Schulterschluss mit linken Aktivisten gegen die AfD auf die Straße gehen. Diedrich Diederichsen nennt das „den Druck des größeren Übels“: Wie soll man linke Alternativen zur neoliberalen Weltordnung formulieren, wenn man bedroht von der nächsten „para-faschistischen Variante dieser Weltordnung“, von den Trumps und Putins, einmal mehr mit den Liberalen gemeinsame Sache machen muss? Schlichter formuliert: Wo bleibt die Utopie, wenn die Dauerkrise keine Atempause zulässt?

Darauf findet „Das 21. Jahrhundert“ keine Antworten. Dafür jedoch jede Menge kluger Erklärungen, die man sich am liebsten an die Wand tätowieren möchte. Wie diese hier zum grassierenden Realitätsverlust der Deutschen: „Enttäuschter Resthumanismus, insbesondere die klassenspezifische narzisstische Kränkung untergehender provinzieller Kleinbürgertümer ist aber der Humus der kurrenten Verschwörungstheorien.“

Oder diesen Merksatz, gefunden in einem Aufsatz über die Gemeinsamkeiten des schwarzen Jazz-Avantgardisten Sun Ra und des Kölner Neutöners Karlheinz Stockhausen: „Das spezifisch Unbefriedigende der Ideologielosigkeit ist nicht der Verlust einer Wahrheit, sondern dass sie genau das Produkt der Ideologie ist.“

Manchmal reicht die Überschrift aus, um Erkenntnis funkeln zu lassen: „Deutschland. Das Normale wollen und das Monströse schaffen“ oder „Konkret heißt auf Englisch Beton“. So löst man zwar keine Probleme, dafür aber Denkprozesse aus, gemäß dem, was Diedrich Diederichsen seine Kinderkosmologie nennt: „Dass ‚Ich-denken-Können‘ zur Unverwundbarkeit und Unsterblichkeit führt.“


Diedrich Diederichsen: „Das 21. Jahrhundert. Essays“, Kiepenheuer& Witsch, 1136 Seiten, 58 Euro, E-Book: 39,99 Euro

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