Die 96. Verleihung der OscarsFolgen auf İlker Çataks Tränen der Wut solche der Freude?

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Eine junge Lehrerin steht schreiend vor der Schultafel.

Leonie Benesch in einer Szene des für den Oscar nominierten Films „Das Lehrerzimmer“ vonİlker Çatak.

„Oppenheimer“ ist Oscar-Favorit. Aber was macht Barbie? Und ist „Das Lehrerzimmer“ deutsch genug? Ausblick auf die 96. Oscar-Nacht.

Der paradoxe Reiz der Oscar-Verleihung liegt darin, dass alle wissen, was passieren wird und es trotzdem manchmal anders kommt. Auf diese schlichte Einsicht kann man auch dieses Mal seine Hoffnungen bauen, jedenfalls, sofern man Christopher Nolans „Oppenheimer“ nicht für den Höhepunkt des Filmjahrs hält. Selten wurde es den Auguren der Oscar-Nacht so leicht gemacht, selten ergaben die Vorwahlen der Oscar-Saison ein derart eindeutiges Bild. Im Grunde bleibt nur die Frage, wie viele Trostpreise am 10. März (Ortszeit) für die Konkurrenz des in 13 Kategorien nominierten Historienfilms abfallen. Es sei denn, das kollektive Unbewusste der stimmberechtigten Mitglieder der Academy of Motion Picture Arts and Sciences rebellierte per Briefwahl gegen das Nolan’sche Über-Ich.

Statistisch steht der Sieger des Hauptpreises bereits fest: „Oppenheimer“

Statistisch steht der Sieger des Hauptpreises bereits fest: „Oppenheimer“ wurde bei den Golden Globes, den britischen Filmpreisen, der US-Kritikerumfrage und von den US-Gilden der Schauspieler, Regisseure und Drehbuchautoren zum besten Film gewählt, eine Konstellation, die es in der Oscar-Geschichte selten gab und stets zum „vorherbestimmten“ Ergebnis führte. In diesem Geiste gelten auch Christopher Nolan (Regie), Cillian Murphy (männlicher Hauptdarsteller) und Robert Downey Jr. (männlicher Nebendarsteller) als sichere Oscar-Gewinner. Preise für Kamera, Schnitt, Ton und Musik dürften für den bereits an den Kinokassen erstaunlich erfolgreichen Film hinzukommen.

Ein Mann schaut durch ein kleines Fenster in gleißendes Licht.

Cillian Murphy im großen Oscar-Favoriten „Oppenheimer“.

Wenig spricht hingegen dafür, dass sich das „Barbenheimer“-Phänomen bei der Oscar-Verleihung wiederholt. Greta Gerwig wurde in der Regie-Kategorie nicht einmal nominiert (ebenso wenig wie Barbie-Darstellerin Margot Robbie), was zu erregten Debatten darüber führte, ob es Hollywood mit dem Feminismus wirklich ernst ist; die Akademiemitglieder dürfte dies aber kaum dazu verleiten, nun aus Trotz Ryan Gosling für dessen Ken zu prämieren. Ganz leer wird der Film trotzdem nicht ausgehen: Gerwig hat in der Kategorie „Adaptiertes Drehbuch“ Außenseiterchancen (gemeinsam mit Noah Baumbach), und auch Jacqueline Durrans Kostüme sind in der engeren Wahl. Ein sicherer Tipp ist aber lediglich der Preis für den besten Filmsong. In dieser Kategorie liefern sich Billie Eilish und Ryan Gosling ein Kopf-an-Kopf-Rennen, das Eilish für sich entscheiden sollte.

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İlker Çatak vermutet, er sei seinen Landsleuten nicht deutsch genug

Der deutsche Triumph der letzten Oscar-Nacht (mit vier Auszeichnungen für „Im Westen nichts Neues“) wird wohl keine Fortsetzung finden – wobei allein die drei Nominierungen für Sandra Hüller, Wim Wenders und İlker Çatak die deutsche Filmbranche vor nicht allzu langer Zeit noch in Champagnerlaune versetzt hätten. Andererseits ist Hüller für ihre Hauptrolle in einem französischen Film nominiert („Anatomie eines Falls“) und Wenders geht mit „Perfect Days“ für Japan ins Rennen um den besten internationalen Film. In dieser Kategorie ist auch der einzige deutsche Film im Wettbewerb nominiert: „Das Lehrerzimmer“. Dessen Regisseur freilich vermutet, er sei seinen Landsleuten nicht deutsch genug. In Interviews beklagte Çatak die mangelnde Aufmerksamkeit für ihn und seinen Film in der Oscar-Berichterstattung und erklärte, er habe über diese „rassistische“ Zurücksetzung „vor Wut geweint“.

İlker Çatak posiert für ein Porträt während des «Nominees Luncheon» im Beverly Hilton Hotel.

Der deutsche Regisseur İlker Çatak vor der Oscar-Verleihung. Sein Film „Das Lehrerzimmer“ ist in der Kategorie Bester internationaler Film nominiert.

Çataks Klage passt in eine Stimmungslage, in der die deutsche Kulturwelt erstaunt zur Kenntnis nimmt, dass sie international oftmals anders gesehen wird, als sie sich selbst wahrnimmt – nämlich als Hort von Liberalität, Meinungsfreiheit und Weltoffenheit. An diesem Selbstbild kratzten vor allem die Debatten um Documenta und Berlinale, in Hollywood dürften sie noch keine Rolle spielen. Ein Oscar für Çataks „Lehrerzimmer“ wäre ein Happyend, wie es Hollywood liebt. Trotzdem ist es unwahrscheinlich, dass auf die Tränen der Wut solche der Freude folgen. Jonathan Glazers Auschwitz-Film „The Zone of Interest“ gilt in der Auslandskategorie als unangreifbar.

Sollte Glazers britisches Drama gewinnen, wäre Sandra Hüller (die darin die Frau des Auschwitz-Kommandanten Rudolf Höß spielt) womöglich länger im Bild als in ihrer eigenen Kategorie. Unter den Hauptdarstellerinnen ist Lily Gladstone haushohe Favoritin: Sie wäre die erste indigene Darstellerin, die einen Oscar erhält, und das für die Rolle in einem Film („Killers of the Flower Moon“), der die mörderische Verfolgung der indigenen Bevölkerung in den USA beklagt. Eher triumphiert „Barbie“ bei den Oscars, als dass sich die Filmakademie die Gelegenheit entgehen lässt, diesen längst überfälligen Eintrag ins Geschichtsbuch vorzunehmen.

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