Passage aus Wilhelm TellVor diesem Schiller-Zitat muss Putin sich fürchten

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Wladimir Putin (Archivbild)

Köln – Sie gehören zu Schillers berühmtesten Versen – und sie erleben in diesen Tagen, vor dem Hintergrund des Ukraine-Krieges, wieder einmal eine Hochkonjunktur. Zuletzt noch zitierte sie der frühere Bundestagspräsident Wolfgang Thierse im Interview mit dieser Zeitung im Zuge seiner Warnung vor einem unbedingten Pazifismus:

Tatsächlich gewinnt die in diesem Satz formulierte Überzeugung im Kontext der Putin’schen Aggression gegen den Nachbarstaat eine bedrückende Aktualität. Ob man die Ukraine mit Schillers „Frömmstem“ assoziieren kann, sei dahingestellt. Auf jeden Fall wurde sie das Opfer einer unverschuldeten, nicht provozierten Aggression.

Passen Schillers berühmte Verse auf die heutige Zeit?

Die Verse werden indes auch zur argumentativen Untermauerung des neu erwachten Nato-Verteidigungswillens herangezogen – und zur immerhin umstrittenen Legitimität der vom Bundeskanzler angekündigten Aufstockung der deutschen Militärausgaben um 100 Milliarden Euro. Sollte der „böse Nachbar“ demnächst Nato-Territorium angreifen (zum Beispiel die baltischen Staaten unter dem denkbaren Vorwand, die dortige russische Minderheit schützen zu müssen), soll er – das ist die Botschaft – die Attackierten nicht wehrlos antreffen.

Das ist de facto die Rückkehr zur Abschreckungsdoktrin des Kalten Krieges – und das Aus für die nach 1989/90 mit großem – und wie man im Nachhinein sagen muss: falschem – Optimismus ins Werk gesetzte Friedensdividende. Appeasement – das ist die Lehre nicht nur aus dem Schiller-Satz, sondern unbestritten auch aus historischen Erfahrungen, nämlich denen der 30er Jahre des vergangenen Jahrhunderts – zahlt sich nicht aus, sondern ermutigt und belohnt nur den Aggressor.

So oder so mag es erkenntnisfördernd sein, sich in dieser weltpolitischen Lage nicht nur besagte Verse ins Gedächtnis zu rufen, sondern auch den Werkkontext, in dem sie erscheinen.

Wilhelm Tell spricht sie im gleichnamigen 1804 uraufgeführten Drama (dessen Handlung im Jahre 1308 spielt), Schillers letztem vollendeten Theaterstück, gegen Ende des vierten Aktes (hier nachzulesen). Das ist kurz vor seinem erfolgreichen Mordanschlag auf den tyrannischen habsburgischen Landvogt Gessler.

Ausgesprochen wird hier die Erkenntnis – es ist unstrittig nicht nur diejenige von Schillers Dramenheld, sondern auch die seines Autors –, dass für ein Leben in Frieden und Freiheit im äußersten Fall extrem Unfriedliches getan werden muss. Kurzum: Schiller rechtfertigt auf der Basis einer naturrechtlichen Konzeption den Tyrannenmord – und bezieht damit eindeutig Position in einer Causa, die in der Geschichte des politischen, juristischen und theologischen Denkens von der Antike bis ins 20. Jahrhundert immer wieder heftig umstritten war.

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Die Schillerforschung hält es heute für wahrscheinlich, dass im Hintergrund seiner Auseinandersetzung mit dem Phänomen der ungerechten wie auch (im „Demetrius“, dem letzten, unvollendeten Drama) der illegitimen Herrschaft bereits die welthistorische Figur Napoleons auftaucht, dessen imperialer Expansionsdrang allerdings erst nach Schillers Tod (1805) vollends offensichtlich wurde.

Zieht man anhand der berühmten Verse vom „Wilhelm Tell“ aus eine Linie zum Ukraine-Konflikt, ergibt sich somit die Fiktives und Historisches kühn kurzschließende, aber nicht uninteressante Personalkonstellation Gessler – Napoleon – Putin.

In dieser Perspektive würde mit einiger Konsequenz dann auch der russische Diktatur zum geeigneten Objekt für einen Tyrannenmord – als der „böse Nachbar“, der nicht nur die Ukraine und auch sein eigenes Volk tyrannisiert, sondern potenziell auch, befeuert durch obskure russische Großreichvisionen, friedliche Nato-Länder bedroht.

Eigentlich dürfte es den bösen Nachbarn im Staatengefilde gar nicht geben

Immanuel Kant, Schillers Zeitgenosse und philosophischer Mentor, argumentierte in seiner Schrift „Zum ewigen Frieden“, das Problem der Staatserrichtung sei selbst „für ein Volk von Teufeln (wenn sie nur Verstand haben), auflösbar“. Für eine internationale Friedensordnung gilt aus seiner Sicht Ähnliches: Für deren Funktionieren reicht es aus, wenn die kollektiven Akteure, also die Staaten, ihrem aufgeklärten Eigeninteresse folgen – eine moralisch begründete Selbstverpflichtung zum Friedenserhalt wird solchermaßen unnötig.

Das kann sich hören lassen. Indes antwortet Kant nicht auf die naheliegende Frage, was geschieht, wenn die „Teufel“ eben „keinen Verstand haben“, wenn sie – zeitgemäß ausgedrückt – ideologischen und damit aus neutraler Sicht irrationalen Imperativen und Impulsen folgen. An diesem Punkt scheint Schiller weiter als Kant zu sein: Wo dieser sich in Sachen Friedensstiftung mit dem Hinweis auf das vermutete Selbstinteresse der Akteure beruhigt, interessiert den Dichter nicht das Motiv, sondern das beobachtete Ergebnis: dass es den bösen Nachbarn, selbst wenn es ihn nicht geben darf, zuweilen eben doch gibt.

Mehr als beschwichtigende Konfliktvermeidung

„Nach der Beendigung des Zweiten Weltkrieges“, schreibt Jürgen Habermas in einem Aufsatz zur Aktualität von Kants Friedensschrift, „hat die Idee des ewigen Friedens in den Institutionen, Erklärungen und Politiken der Vereinten Nationen (sowie anderer überstaatlicher Institutionen) eine handgreifliche Gestalt gewonnen. Die herausfordernde Kraft der unvergleichlichen Katastrophen des 20. Jahrhunderts hat der Idee einen Schub gegeben. Vor diesem düsteren Hintergrund hat der Weltgeist, wie Hegel sich ausgedrückt hätte, einen Ruck getan.“

Mittels Putins Überfall auf die Ukraine macht er jetzt, so könnte man hämisch fortfahren, wieder einen Ruck – aber in die falsche Richtung. Der Einwand wäre freilich etwas billig, denn an der Sollgeltung einer normenbasierten Friedensordnung und an der Konstitutionalisierung des Völkerrechts kann nach wie vor kein Zweifel bestehen. In Habermas’ Terminologie: „Geltung“ erledigt sich nicht durch „Faktizität“, und kein Putin kann diese Ideen ramponieren. Um die Perspektive ihrer Verwirklichung offen zu halten, bedarf es allerdings, wie man sieht, einer nüchternen realpolitischen Bestandsaufnahme.

Wer dem Aggressor entgegentritt, tut – siehe „Wilhelm Tell“ – für Frieden und Freiheit am Ende mehr als die beschwichtigende Konfliktvermeidung um jeden Preis.

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