Radikal gegen den Strich gebürstetLohnt sich ein „Carmen”-Besuch in der Kölner Oper?

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Don José (Martin Muehle) will unbedingt, Carmen (Adriana Bastidas-Gamboa) entschieden nicht.

  • In Lydia Steiers neuer Opern-Inszenierung der „Carmen” in Köln wird das Werk gegen den Strich etablierter Erwartungen gebürstet.
  • Damit wird es zum ersten Höhepunkt der Saison – trotz einigen Buh-Rufen im Publikum. Unsere Kritik.

Köln – Am Ende gab es im Saal I des Kölner Staatenhauses zu lebhaftem Beifall auch ein paar Buhs, und einige Besucher der Kölner „Carmen“-Premiere wirkten im Nachgang tatsächlich unzufrieden. Ein Grund mag sein, dass Lydia Steiers neue Inszenierung das Werk radikal gegen den Strich etablierter Erwartungen bürstet, in diesem Sinne eine geradezu partisanenhafte Attacke startet.

Wer indes versucht, sich einmal von der erdrückenden Last überkommener Deutungsangebote, die gerade dieses Werk bereithält, frei zu machen – was nicht leicht ist –, der müsste eigentlich zu dem Ergebnis kommen, dass hier Großes versucht und ins Werk gesetzt wurde.

Feministische Perspektive

Der amerikanischen Regisseurin ist es nicht nur gelungen, neue Deutungspotenziale aus mehr oder weniger feministischer Perspektive aufzuschließen, sondern sie auch in hohem Maße sinnlich erfahrbar zu machen. Denn die beste Idee taugt ja nichts, wenn sie nicht zu Bild und Bewegung findet. Diesbezüglich aber liefert Steier fast einen Overkill an Motiven, Einfällen und Gesten gerade im szenischen Mikrobereich. Der äußeren Opulenz, mit der hier mühelos die breite Bühne gefüllt wird, entspricht ein Grad an „innerer“ Durchformung und -ausarbeitung, der bewundernswert ist. Fasst man dies alles zusammen mit den Sänger- und Spielerleistungen, so imponiert diese „Carmen“ schon jetzt als Höhepunkt der Kölner Opernsaison.

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Das Wort „Partisan“ fiel nicht von ungefähr. Denn im olivgrünen Che-Guevara-Look mit schwarzen Stiefeln, also quasi asexuell-geschlechtsneutral (und immer wieder mit Zigarette) präsentiert sich ausgerechnet die Titelfigur. Für die großartige Adriana Bastidas-Gamboa war es sicher eine Herausforderung, hier auf alles zu verzichten, was diese Rolle sonst ausmacht. Keine Kastagnetten und Fächer, keine lüstern-raubtierhaften Blicke und Bewegungen, kein folkloristisch getönter Sexappeal – nein, alles nicht.

Aggressive Verweigerung

Stattdessen bereits in der Auftrittsszene mit der Habanera eine Klang und Geste gewordene aggressive Verweigerung – gegenüber männlichen Fantasien, Machtansprüchen, Zugriffsoptionen; und damit auch performativ gegenüber den mit Bizets Oper üblicherweise verbundenen Rollenklischees. Diese Frau will vor allem frei sein – frei auch von den Bildern, die sich der Machismo der Umwelt von ihr macht. Dass sie diesen Willen mit dem Leben bezahlen muss, ist ihr von Anfang an klar: Blutverschmierte Carmen-Doubles jeweils zu Beginn der vier Akte spiegeln ihr das eigene Ende vor – eine Parallele zum fünftönigen Schicksalsmotiv, das bereits in der Ouvertüre erklingt. Ihre Freiheit aber wahrt sie noch im Tod: Sie gibt sich das Messer, ehe Don José es kann.

Und noch einmal: Bastidas-Gamboa setzt diese „Anti-Carmen“ eindringlichst um: Ihr schöner, fabelhaft geführter und substanzreicher Mezzo nimmt etwa im Sottovoce der Habanera den Ausdruck lauernder Gefährlichkeit an. Klar, Bastidas-Gamboa kann auch anders, etwa im Duett mit José am Ende des zweiten Akts, aber zu ihrem schwarzen Grundton kehrt sie immer wieder bereitwillig zurück.

Mediterrane Schäbigkeit

Dass sich Steiers Carmen allen Klischees verweigert, bedeutet selbstredend nicht, dass diese nicht am Wegrand der Opernhandlung liegen. Die Inszenierung ist in einem Spanien unbestimmter Gegenwart angesiedelt, einer mediterranen Sphäre, die nicht durch Postkartenreiz, sondern Schäbigkeit beeindruckt. Durchwaltet wird sie von einem traditionalen Katholizismus mit seinen Ikonen. Diese Kruste platzt aber schnell weg – wie etwa die blasphemische, weil schnell in eine saturnalische Orgie umkippende Messe im zweiten Akt mit Carmen im Gewand der Gottesmutter zeigt. Und gerne geht die männliche Bevölkerung in den Puff – genauer: in die Wohnwagen eines Straßenstrichs, die Momme Hinrichs (Bühne) im dritten Akt auffahren lässt.

Die Frau erscheint in diesem Zusammenhang als Hure und Heilige, etwas anderes gibt es nicht. Und sie wird zum jederzeit „erlegbaren“ Fleisch – womit sich zwanglos die Parallele zwischen Frauenjagd und Stierkampf herstellt, die der protzende Escamillo in seinem Auftrittslied explizit macht (er hätte wohl ebenfalls keine Zukunft mit dieser Carmen). Von Steier wird der Aspekt leitmotivisch bedient – der Hintergrund des ersten Akts ist keine Zigarettenfabrik, sondern ein Fleischladen, eine „Carniceria“ (man bemerke: „Car-men“ und „Car-niceria“ beginnen mit derselben Silbe).

Die übrigen (tonverstärkten) Sangesleistungen der Premiere hielten im wesentlichen das Niveau der Protagonistin: Martin Muehle als Don José lässt flexiblen Wohllaut verströmen und hätte ein paar arg angezurrte Spitzen gar nicht nötig. Auch in der Szenenführung glänzend gerieten seine Begegnungen mit Claudia Rohrbachs stimmlich gewinnender, in ihrer Zurichtung freilich an die ältliche Lehrerin eines Mädchenpensionats gemahnender Micaela: Das verlegene Hin und Her mit deren Koffer verrät tragikomisch eine Beziehung, die keine ist und keine werden kann.

Fülle fein abgetönter Farben

Etwas unter Ton und ein wenig zu schwach blieb Oliver Zwargs Escamillo, die übrigen Partien sind mit Matthias Hoffmann (Zuniga), Lukás Barak (Morales), Alina Wunderlin (Frasquita), Arnheidur Eiriksdóttir (Mercédes), Miljenko Turk (Le Dancaire) und Alexander Fedin (Le Remendado) ansprechend besetzt. Zuverlässig und engagiert agierten der Opernchor und die Mädchen und Knaben des Domchores – ihre Choreografie trägt nicht wenig zur imposanten Beweglichkeit der Bühne bei. Erstaunlich gut klappt auch die Koordination mit dem links im Off positionierten Gürzenich-Orchester, dem Claude Schnitzler am Pult eine Fülle an fein abgetönten Farben, kontrastiven Stimmungen und atmosphärischen Finessen (Beginn des zweiten Akts!) entlockt. Misslich ist die Trennung von Orchester und Bühne ob der markanten Raumtrennung der Klangzentren trotzdem.   

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