Sandra Hüller auf der lit.CologneVon der Oscar-Verleihung in die Mülheimer Stadthalle

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10.03.2024, USA, Los Angeles: Sandra Hüller kommt zur Oscar-Verleihung im Dolby Theatre in Los Angeles. Sie trägt ein schulterfreies, schwarzes Kleid.

Sandra Hüller las am 16. März 2024 auf der lit.Cologne aus dem Werk Wolfgang Herrndorfs

Sandra Hüller gestaltete auf der lit.Cologne zusammen mit Tobias Rüther einen Abend über das tragische Leben des „Tschick“-Autors Wolfgang Herrndorf.

Kaum, dass sich Sandra Hüller unter donnerndem Applaus gesetzt hat, eilt eine Frau zur Bühne und legt eine Rose zu ihren Füßen. Sagt durch die Blume, was alle denken, hier, am Samstagabend in der Stadthalle in Köln-Mülheim: ein Weltstar in unserer Mitte! Unsere Frau in Hollywood! Das lässt sich nun mal nicht leugnen. Vor sechs Tagen saß sie als Nominierte für den Academy-Award als beste Hauptdarstellerin im Dolby Theatre, lächelte gequält, als sie sich von Jimmy Kimmel bewitzeln lassen musste, vergoss Tränen, als „The Zone of Interest“ – der zweite in diesem Jahrgang Oscar-nominierte Film, in dem sie die Hauptrolle spielt – gewann.

Dass Hüller ganz offensichtlich kein Star sein will, sondern sich im Gegenteil als Schauspielerin freigebig und schonungslos an ihre jeweiligen Rollen verschwendet, ist einer der Gründe für ihren Erfolg. So leicht entkommt man dem Ruhm nicht.

Eigentlich, wendet sich Hüller an „FAS“-Journalist und Buchautor Tobias Rüther, müsste man die Rose ja ins Wasser … und deutet auf die Karaffe auf ihrem Tischchen. Dann ebbt der Applaus endlich ab, der Hollywood Boulevard vorm Dolby Theatre ist ja auch nicht viel gepflegter als der Wiener Platz, und die Gefeierte spricht zur Sache. Spricht, mit den Worten von Wolfgang Herrndorf, von frühesten Kindheitserinnerungen, vom erwachenden Bewusstsein, die Dämmerung zwischen den Stäben des Gitterbetts.

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Vor dem Dolby Theatre in Los Angeles ist es auch nicht gepflegter als auf dem Wiener Platz in Köln

Rüther fällt mit den ersten Sätzen seiner Herrndorf-Biografie ein – sie ist im vergangenen Jahr, zum zehnten Todestag des „Tschick“-Autors erschienen – erzählt vom „weiten, blassblauen norddeutschen Himmel“, auf den der junge Wolfgang aus dem Fenster seines Kinderzimmers schaute. Für diesen lit.Cologne-Abend hat Rüther seine Lebensbeschreibung Herrndorfs mit den autobiografischen Spuren in dessen Texten verknüpft.

Er liest aus seiner Biografie, Hüller aus den passenden Stellen des fiktionalen Werks und aus „Arbeit und Struktur“, dem zum Buch gebundenen Blog seines Sterbens. Im Februar 2010 war bei Herrndorf ein bösartiger Hirntumor entdeckt worden, die letzten dreieinhalb Jahre seines Lebens verbrachte er in einem Arbeitsrausch und trotze dem Tod die Bücher ab, mit denen er sich in die Literaturgeschichte einschrieb.

„Falls ich jemals etwas anderes als reine Fiktion schreiben sollte“, zitiert Hüller gleich mehrmals Herrndorf aus dessen nachgelassenen Erzählband „Stimmen“, „dann erschießen Sie mich bitte“. Ein bitterer Witz. Wie dieser Abend verlaufen wird, ist nach zwei Minuten klar. Und auch, dass er nicht gut ausgeht. Aber das Publikum in der ausverkauften Stadthalle hängt an den Lippen der Lesenden, kein einziger Huster unterbricht die Konzentration. Tobias Rüther hat die Szenen so engmaschig und effektiv zusammengestellt, dass man, selbst wenn man das alles schon gelesen hat, doch in dieses mit sich und der Welt hadernde Leben eintaucht, als lauschte man der nächtlichen Beichte eines guten Freundes.

Sandra Hüller liest, als könnte sie durch den Kopf des Autors reisen

Und Sandra Hüller liest, als befände sie sich hier selbst auf einer fantastischen Entdeckungsreise, als könnte sie mit einem auf Mikrobengröße verkleinerten U-Boot durch das Hirn des Autors fahren. Schönheit, konstatiert Rüther, findet Wolfgang Herrndorf von Anfang an in der Vergänglichkeit, beziehungsweise im vergeblichen Bemühen, solche Momente festzuhalten, in denen Himmel und Horizont noch unverstellt sind.

Unweigerlich schreitet der Abend fort, von der Kindheit am Hamburger Stadtrand, vom bastel- sport- und abenteuerwütigen, aber auch eigenbrötlerischen, in sich gekehrten Jungen, zu den verkrachten Kunststudentenjahren in Nürnberg, in denen sich Herrndorf, für den Lucas Cranach und Vermeer schon die Höhepunkte der Kunstgeschichte darstellen, im Kleinkrieg mit seiner unverständigen Professorin aufreibt. „Sie zog ihre Mundwinkel zu einer Art Lächeln herunter“, liest Hüller und der Saal lacht auf.

In der Redaktion der „Titanic“ findet Herrndorf endlich Gleichgesinnte, und, nach seinem Umzug nach Berlin, im Forum der „Höflichen Paparazzi“ seine Peergroup. Hier wird aus dem Feinmaler ein Feinschreiber, so obsessiv, dass es ihm schwerfällt, seine Texte loszulassen. Der erste Roman, „In Plüschgewittern“, der erste Band mit Erzählungen, „Diesseits des Van-Allen-Gürtels“ bleiben Achtungserfolge. Herrndorf ist ein hungernder Poet, eine verspätete Figur der Spätromantik, „hinter jedem Elektrozaun eine blaue Blume“, formuliert Rüther. Ob er ohne das Todesurteil des Glioblastoms das Schreiben genauso aufgegeben hätte wie die Malerei? Seine Witwe, die Kinderbuchautorin Carola Wimmer, geht davon aus.

Stattdessen vollendet Herrndorf jetzt den Jugendroman, der ihn zum Bestsellerautor macht und kämpft sich siegreich durch das unendlich komplexe Gewirr einer irren Spionagegeschichte. Sandra Hüller liest die lange Liste mit potenziellen Romantiteln vor, die Herrndorf im Blog veröffentlicht hat, von „Supermarktkassenbestsellern“ wie „Der Gesang des Sandes“ über die Hochkultur („Schuld und Düne“) bis zur 70er-Jahre-Variante („Todestango im Treibsand“), liest, gluckst, lacht laut heraus und der Saal lacht schallend mit.

Bis er nicht mehr lacht. Bis die „Raumforderung“ in Herrndorfs Kopf die letzten Hoffnungsfünkchen verdrängt und die Tagebucheinträge kürzer werden: „Ich bin sehr zu viel“. Unweigerlich folgt der Todesschuss am Nordufer des Hohenzollernkanals im Wedding, die letzte autonome Entscheidung, die Herrndorf noch blieb, folgt die Einäscherung in dem T-Shirt, das ihm die Freundin Kathrin Passig drucken ließ: „Ich mache keine Fehler“, verkündet das stolz.

Als Sandra Hüller aus Wolfgang Herrndorfs letztem Roman liest, muss der ganze Saal schlucken

Der Saal schluckt. Sandra Hüller liest den Schluss seines letzten, unvollendeten Romans vor, „Bilder deiner großen Liebe“. Dessen Ich-Erzählerin, das unbehauste Mädchen Isa hat sie selbst gespielt, in einem gefeierten Monolog mit Gesang, 2016 am Zürcher Theater am Neumarkt und später auch in Bochum. Auch dieses Buch endet mit einem Schuss. Aber er zielt in den „tiefdunklen blauen Himmel“, den Herrndorf’schen Kindheitshimmel, und die Kugel beschreibt eine perfekte Parabel zurück in den Lauf der Waffe.

Der Beifall will nicht enden. Aber dann ist der Bann gebrochen, ein Mann bittet Sandra Hüller um ein Autogramm. Jetzt ist sie wieder ein Star.

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