Kay Voges eröffnet seine Kölner Intendanz mit dem selbst entworfenen, wortlosen Wimmelstück „Imagine“. Unsere Kritik.
Schauspiel KölnEin unheimlicher Spielzeitanfang, aber auch unheimlich gut

Ein seltsames Abendmahl in „Imagine“ am Schauspiel Köln
Copyright: Marcel Urlaub
Als das Kameraobjektiv den Messermann erfasst, setzt dunkel-dräuend das Intro zu The Cures „Alone“ ein. Schwer und langsam dröhnen die Gitarrenakkorde. Der Messermann erhebt sich vom Bett, geht durch die Tür ins Freie, ins nächtliche Dorf, wo ihn das Publikum im Depot 1 auch abseits der Leinwand betrachten kann. Er grüßt den Pfarrer, der vor der Kirchentür verharrt und mit seinen schwarzen Koteletten ebenso gut ein Auftragskiller aus einem alten Gangsterfilm sein könnte. Schräg gegenüber guckt eine alte Dame aus der großen Fensterfront ihres erleuchteten Wohnzimmers.
Derart verrätselt stellt sich der neue Schauspiel-Chef Kay Voges dem Kölner Publikum vor – und knapp zwei Drittel (19 von 30) des neuen Ensembles gleich mit. „Imagine“, Voges zusammen mit seinem Chefdramaturgen Alexander Kerlin erdachte, aufwendige Neuproduktion zum Spielzeitauftakt spielt mit der Imagination der Zuschauer, mit ihrem Voyeurismus und ihrer Neugier – und nicht zuletzt mit der Frage, wie viel man sagen kann, ohne auch nur ein einziges Wort fallen zu lassen.
Wie Gespenster ihrer selbst erscheinen die Bewohner des Dorfes
„Dies ist das Ende jedes Liedes, das wir singen“, hebt Robert Smith jetzt mit brüchiger Stimme an. Singt von kalter Asche und von Angst, von den Geistern, all dessen, was wir einmal waren. Wie Gespenster ihrer selbst erscheinen auch die nun immer zahlreicher auftretenden Bewohner des Bühnendorfes, seltsame Gestalten in doppelter Belichtung: Die Geschäftsfrau, die ihre Brüste abtastet, ist auch eine Amazone. Die beiden älteren Männer, die sich gerade nach dem Sex wieder ankleiden, sind vielleicht gar kein Paar – einige Geldscheine wechseln den Besitzer. Aber warum wirft der Empfänger einige von ihnen kurz darauf achtlos auf die Straße? Wer ist der Mann, der in seiner Wohnung versucht, eine Kettensäge zum Laufen zu bringen? Salbt das kniende Schulmädchen den Hautausschlag ihres Vaters ein, oder werden wir hier Zeugen eines Missbrauchs?
Vielleicht stellen wir – als Voyeure im Dunkel des Parketts – uns das alles aber auch nur vor, vielleicht ist der Mann mit dem blutigen Messer nur der Dorfmetzger? Schon sehen wir ihn auf den beiden großen, gestochen scharfen Bildschirmen, wie er einen Schweinekadaver bearbeitet, der an der von uns abgewandten Seite eines Hauses hängt. Aber was macht er da bloß? Isst er das Hirn der toten Sau?

Das aufwändige Szenenbild von „Imagine“
Copyright: Marcel Urlaub
Erklärungen für die hermetischen Handlungen und Begegnungen im Dorf sucht man vergeblich, sie folgen einer Traumlogik, sind der Wirklichkeit enthoben. Stehen in der realistisch-surrealistischen Tradition von Malern wie René Magritte und Edward Hopper oder Fotokünstlern wie Jeff Wall und Gregory Crewdson. Und natürlich erinnert der filmische Abend auch an Kino-Gegenwelten, an die leuchtenden Apartments in Jacques Tatis „Play Time“ oder die dunkle Vorstadt in David Lynchs „Blue Velvet“.
Zwei Kameras umrunden auf einer Schienen-Elipse permanent das Geschehen, das dadurch den Anschein eines Loops bekommt: Die Dorfbewohner agieren im Wiederholungszwang der Traumatisierten. Der Loop entpuppt sich bald als Möbiusband. Folgt man seiner Spur, landet man unvermittelt auf der anderen Seite der Dinge, hinter dem Spiegel. Wieder sehen wir die Amazone, doch diesmal hat sie eine Brust umwickelt, erneut verlässt der Messermann mit Einsatz des Cure-Songs das Haus, aber der alte Mann, über den er jetzt achtlos steigt, lag vorhin noch nicht tot ausgestreckt auf der Straße.
„Who by Fire“, Leonard Cohens Ballade der Todesarten, hatte das ganze Dorf zusammen gesungen – oder zumindest die Lippen synchron zur Tonspur bewegt. Aber plötzlich erhebt sich die vermeintliche Leiche, wird als Jesus-Figur, nur mit einer weißen Unterhose bekleidet, in die Kirche getragen – eine Szene wie aus Ari Asters Horrorfilm „Midsommar“ –, wo die Bewohner Kommunion mit psychedelisch leuchtenden Pilzen feiern. Auf den Bildschirmen verwandeln sich die Abendmahlsempfänger dann in Pflanzenwesen, in Tierhybriden, in formwechselnde Monster, es sind live mithilfe von KI generierte Bilder, eine spektakulär realisierte Zukunftsvision von der Verflechtung der Arten.
Die Reise auf dem Möbiusband geht jedoch noch weiter. In der dritten Umrundung landen wir in der Dystopie, die gerade per Drohne auf uns zuzueilen scheint. Das Dorf bewaffnet sich, bedeckt sich mit Camouflage-Kleidung, Soldaten treiben ihr Unwesen und an Messer statt hält der Metzger jetzt einen Einberufungsbefehl in der Faust. Wo vorher fröhlich zu „Alors on danse“ im Ringelrein getanzt wurde, zucken die Bewohner nun zombiegleich in Dubstep-Gewittern, es ist das einzige Bild der Inszenierung, das arg bemüht und nicht annähernd drastisch genug wirkt.
Und ganz so düster will Voges seinen Einstand auch gar nicht enden lassen, ein behutsam im Laufe des Abends eingeflochtenes Schneewittchen-Motiv zahlt sich endlich aus – wir wollen lieber nichts spoilern – und endlich erklingt auch der titelgebende Song von John Lennon und Yoko Ono. Der wirkt inzwischen nicht mehr ganz so hoffnungsfroh. Im Gegensatz zum langen, warmen Applaus, der Ensemble und Intendant anschließend entgegenbrandet.
Verdient: Kay Voges ist das Kunststück gelungen, mit einem Stück über unseren allseits bedrohten Alltag zu eröffnen, bei dem man sich zugleich gemütlich zurückgelehnt seiner Schaulust hingeben kann. Eine echt kölsche Lösung.