In seiner Heimat Rumänien leitet der scheidende Dirigent des WDR Sinfonieorchesters, Cristian Măcelaru, das Enescu-Festival – und sieht Bukarest in einer Linie mit Salzburg und Luzern.
WDR Sinfonieorchester auf TourIn Timișoara ist Cristian Măcelaru ein Held

Cristian Măcelaru dirigiert beim George Enescu Festival in Bukarest
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„Der Esel ist ein dummes Tier, was kann der Elefant dafür? Iah, iah, iah.“ Kein Geringerer als Béla Bartók zitiert dieses charmant sinnfreie Kinderlied nach einem Text von Wilhelm Busch am Schluss seines ersten Violinkonzerts. Die Melodie lässt sich im Kanon singen, und just dazu animiert die glutvoll performende Solistin Patricia Kopatchinskaja das übrigens bemerkenswert junge Publikum in der zweiten Zugabe. Die Zuhörer im prall gefüllten „Capitol“-Kinosaal folgen nach kurzer Einübung hingebungsvoll – wobei „Der Esel ist ein dummes Tier“ hörbar in makellosem Deutsch erklingt. Das wäre nicht weiter bemerkenswert, wenn der Kinosaal nicht in Rumänien stünde – in Timișoara im äußersten, unweit der ungarischen Grenze gelegenen Westen des Landes. Die Leute hier im Saal haben, so wird dem verblüfften Besucher bedeutet, Deutsch im örtlichen Nikolaus-Lenau-Gymnasium gelernt. Nicht nur sie: Eine Tafel am eindrucksvollen neoklassizistischen Gebäude weist darauf hin, dass hier einst die Nobelpreisträgerin Herta Müller zur Schule ging.
Cristian Măcelaru auf fünftägiger Rumänien-Tournee mit dem WDR Sinfonieorchester
„Ja, ja“, lacht Cristian Măcelaru, der scheidende Dirigent des WDR Sinfonieorchesters, der im Zuge der fünftägigen Rumänien-Tournee des Klangkörpers auch das Konzert in seiner Geburtsstadt Timișoara leitet, „ich glaube fast, ich bin der einzige hier in der Stadt, der nicht richtig Deutsch kann.“ Historisch scheint diese Präsenz des Deutschen nicht gar so verwunderlich: Donauschwaben stellten in der architektonisch stark von österreichischem Barock geprägten Stadt bis zum Zweiten Weltkrieg die größte ethnische Gruppe – vor Ungarn, Rumänen und Juden. Allerdings: Heute stellen Deutschstämmige nur noch gut zwei Prozent der Bevölkerung.
Ausgerechnet der Bürgermeister der Kulturhauptstadt von 2023, Dominic Fritz, ist seit 2020 ein aus Lörrach stammender Deutscher (der ehemals Büroleiter des Bundespräsidenten Horst Köhler war und sich erst seit kurzem um die rumänische Staatsbürgerschaft bewirbt). Dass seine Herkunft für die Kandidatur auf der Liste der liberaldemokratischen Partei USR eher förderlich als nachteilig war – obwohl der Gegenkandidat einen aggressiven nationalistischen Wahlkampf gegen den „Ausländer“ führte –, räumt er im Gespräch offen ein: „Das Deutsche ist hier in der Breite immer noch positiv besetzt.“
Enescu Musikfestival: Gegen kulturpolitische Gefälle
Timișoara (auf Deutsch: Temeswar) ist die Stadt, in der im Dezember 1989 die Revolution gegen das neostalinistische Ceaușescu-Regime ihren Anfang nahm – ehe sie die weit entfernte und verkehrstechnisch bis heute schlecht an den Norden und Westen des Landes angebundene Hauptstadt Bukarest erreichte. Dort – und im siebenbürgischen Cluj (Klausenburg) – gastierte das Kölner Orchester jetzt ebenfalls. Absolviert man diese drei Städte in zeitlich dichter Folge, so fällt die völlig unterschiedliche historische, kulturgeografische und kulturelle Prägung der rumänischen Landesteile auf – da scheint noch lange nicht zusammengewachsen, was staatlich zusammengehört. Das ist auch Măcelaru bewusst, der, seit 2022 künstlerischer Leiter des in erster Linie immer noch in Bukarest beheimateten Enescu-Musikfestivals, ganz gezielt in die Breite und Weite des Landes geht, um auch kulturpolitisch das Gefälle zwischen Metropole und Regionen zu bekämpfen. Diversifizierung lautet diesbezüglich das Schlüsselwort. In Timișoara etwa weiß man das sehr zu schätzen: Măcelaru ist dort der Local Hero, dessen Name mit hymnischer Intonierung an den Fensterscheiben der Geschäfte erscheint. Und spontaner Applaus empfängt ihn auf der Straße, als er nach dem Cluj-Konzert das Restaurant ansteuert, in dem er zum Tournee-Ende ein Abendessen für das Orchester gibt.
Einen besseren Botschafter als Măcelaru könnte es nicht geben
Keine Frage: Einen besseren Botschafter als Măcelaru für das nach Rumäniens wohl bedeutendstem Komponisten benannte und seit 1958 bestehende Festival und für die Kulturszene des Landes überhaupt könnten sich die Rumänen selbst kaum wünschen. Geografisch liegt das alle zwei Jahre stattfindende, vier Spätsommerwochen dauernde Großereignis – und das ist zweifellos ein Nachteil – am Rand der europäischen Kulturwelt. Die vom Krieg geschüttelte Ukraine ist, das muss man sich klarmachen, gleich nebenan. Das Programm spiegelt die Randstellung freilich nicht, die Liste der Gäste repräsentiert die internationale Spitze. So reiste zum Beispiel aus Rom das Orchestra dell'Academia Nazionale di Santa Cecilia an, das in Bukarest unter Daniel Harding und mit dem Solisten Seong-Jin Cho Beethovens erstes Klavierkonzert und Brahms' zweite Sinfonie offerierte. Die großen Namen allein machen es freilich, wie stets, nicht allein. Der Koreaner spielte großartig, aber Harding ließ mit spannungsloser Phrasierung den ersten Brahms-Satz enttäuschend durchhängen.
Die rumänischen Orchester und Solisten setzen eigene Akzente, und auch die Agenda zeigt einen entsprechenden Shift: Sicher liegt ein Schwerpunkt auf dem europäischen Kanon des 19. und 20. Jahrhunderts, aber (der aufs Ganze gesehen möglicherweise überschätzte) Enescu wird halt eklatant häufiger aufgeführt als andernorts, und das gilt auch für seine Zeitgenossen sowie, vor allem, für die aktuellen rumänischen Komponisten.
Bukarest in einer Reihe mit Salzburg und Luzern
Bukarest in einer Reihe mit Salzburg und Luzern? Tatsächlich, Măcelaru dürfte diesbezüglich den Mund keineswegs zu voll nehmen. Indes gibt es, abgesehen von der geografischen Lage, einen eklatanten Unterschied: „Wo Sie in Salzburg für ein Ticket 500 Euro auf den Tisch legen müssen, kriegen Sie hier für dasselbe Konzert eins für fünf Euro.“ Der notorisch arme Staat macht all das und damit auch die programmatische Niederschwelligkeit bislang mit: Er trägt 95 Prozent der Kosten – in dem Wissen, dass die Magnetwirkung des Festivals auch finanzielle Umweggewinne garantiert.
Woran es – in Bukarest und erst recht in Timișoara und Cluj – nach wie vor hapert, das ist die Umgebung, sind die Veranstaltungsorte. Alte Kinosäle oder ein ehemaliges sozialistisches Parteitagsgebäude wie die gigantische Palace Hall in Bukarest bringen es halt nicht so richtig – akustisch wie atmosphärisch. Das bekommen auch die Gäste aus Köln zu spüren: In Timișoara wird der Klang, das Orchester kann nichts dafür, bei entsprechender Lautstärke grell und stumpf, da gibt es bei Rachmaninows zweiter Sinfonie – zweifellos einem Heimspiel für Ensemble und Dirigent – ordentlich was auf die Ohren. Im universitären Auditorium Maximum in Cluj, wo das Timișoara-Programm wiederholt wird, sitzen die Musiker wie in einer Ölsardinenbüchse, man sieht sie förmlich schwitzen.
Trotz dieser limitierenden Bedingungen: Die „Salome“-Aufführung in der Bukarester Palace Hall war vom Feinsten – die Besucher der Wiederholung an diesem Samstag in der ungleich geeigneteren Kölner Philharmonie können sich rundum vorfreuen: Die Gesangssolisten – Jennifer Holloway als Salome, Iain Paterson als Jochanaan, Tanja Ariane Baumgartner als Herodias, Gerhard Siegel als Herodes – entfalten ein beklemmendes Kammerspiel der psychologischen Intensitäten und herausragenden artikulatorischen Präsenzen. Măcelaru entwickelt mit den glänzend disponierten WDRlern ein Feuerwerk sinnlich-fiebriger Erregung, das die motivisch durchgearbeitete Partitur allemal differenziert hörbar macht und die großen Steigerungsbögen mit bannender dramatischer Kraft realisiert.
Unser Autor reiste auf Einladung des WDR Sinfonieorchesters nach Bukarest.