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Willem Dafoe zum SiebzigstenDer ganz normale Wahnsinnige aus Wisconsin

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Willem Dafoe, im schwarzen Anzug mit schwarzer Krawatte, gestikuliert für die Fotografen.

Willem Dafoe kommt zur 97. Oscar-Verleihung. Am 22. Juli 2025 wird der Schauspiler 70 Jahre alt.

Wenige Schauspieler wagen sich so weit hinaus wie Willem Dafoe. Eine Würdigung zum 70. Geburtstag des Hollywoodstars. 

Verrücktheiten, hat Willem Dafoe einmal gesagt, seien nun wirklich nicht sein Ding. „Ich bin nur ein Normalo aus Wisconsin.“ Das freilich würde ihn zu einem noch größeren Schauspieler machen, als allgemein bekannt. Beängstigend groß.

Die Beweismittel sind schnell ergoogelt: Wie er als Killer Bobby Peru in David Lynchs „Wild at Heart“ die falschen, verfaulten Zähne fletscht, nervös mit den Mundwinkeln zuckt, wenn Kriegsverbrechen seiner Marines-Einheit zur Sprache kommen und sich später nach einem missglückten Banküberfall den bestrumpften Kopf wegschießt (er habe für den Film gar nichts getan, außer pünktlich am Set aufzutauchen, tiefstapelte Dafoe); wie er als Vincent van Gogh in Julian Schnabels „An der Schwelle zur Ewigkeit“ an Paul Gauguins übereilten Abschied zerbricht, nicht seinem Künstlerfreund hinterher, sondern in den grauen, leeren Himmel blickt, während ihm seine Gesichtszüge im geistigen Zusammenbruch entgleiten.

Von Jesus von Nazareth zum  „Antichrist“

Oder, wie er in Sam Raimis „Spider-Man“ als Green Goblin mit seinem Spiegelbild spricht, zuerst verängstigt, dann überwältigt von der eigenen, sich in der Reflexion enthüllenden Bösartigkeit. Gilt das in Wisconsin etwa als normal?

Es geht ein Riss durch Willem Dafoes Schauspielkarriere, tiefer als seine berühmten Gesichtsfurchen, weiter als die charakteristische Zahnlücke. Für Martin Scorsese gab er einen zutiefst menschlichen Jesus von Nazareth, für Lars von Trier verbrannte er in „Antichrist“ als hochmütiger Therapeut und männlicher Teil eines satanischen Adam-und-Eva-Paares seine psychotische Frau. Als U.S. Army-Sergeant in Oliver Stones „Platoon“ und FBI-Ermittler in Alan Parkers „Mississippi Burning“ war er ein moralischer Kompass inmitten der ethischen Wüsteneien des Vietnamkriegs und der segregierten Südstaaten – als vor kalter Wut fast platzender Biker in Walter Hills „Streets of Fire“ oder als zunehmend eskalierender FBI-Agent in Troy Duffys Kult-Klassiker „Der blutige Pfad Gottes“ ein Halbgott des Chaos.

In E. Elias Merhiges „Shadow of the Vampire“ verkörperte er F. W. Murnaus „Nosferatu“-Darsteller Max Schreck als blutdürstenden Vampir, 25 Jahre später brachte Dafoe in Robert Eggers Remake des Weimarer Stummfilms als kauziger Vampirjäger ebenjenen Nosferatu zur Strecke.

Das größte Paradox in Willem Dafoes illustrer Karriere jedoch bleibt die Tatsache, dass der Haupt- und Charakterdarsteller aus fast 140 Filmen sich eigentlich als Mann des Theaters versteht. In Wisconsin hatte er in den 1970er Jahren erste Bühnenerfahrungen bei der experimentellen Gruppe Theatre X gesammelt, bevor er in New York die noch sehr viel experimentierfreudigere Wooster Group mitgründete. Der hielt er auch als Filmstar stets die Treue.

Vielleicht sind Dafoes stärkste Performances aber jene, in denen er sowohl die abgründigen wie die aufrechten Seiten eines Charakters ausloten darf: Der erschöpfte, aber mitfühlende Motel-Manager in Sean Bakers „The Florida Project“; der Drogenkurier, der sich in die Nöte seiner Klienten verstrickt, in Paul Schraders „Light Sleeper“. Oder seine virtuosen Abstiege in den Wahnsinn der eigenen Wahrnehmung: Man kann Robert Eggers „The Lighthouse“, Abel Ferraras „Siberia“ und Vasilis Katsoupis' „Inside“ als Trilogie der Isolation betrachten, Dafoe verliert hier wahlweise als Leuchtturmwärter, als einsamer Barmann in Sibirien und als in einem verlassenen Penthouse gefangener Kunstdieb jeden Kontakt zur Realität.

Nie schien Wisconsin ferner. Wenige haben sich so weit hinausgewagt wie Willem Dafoe. Am Dienstag, dem 22. Juli, feiert der Schauspieler seinen 70. Geburtstag.