EssayFälschungen des „Spiegel“-Reporters schaden dem Journalismus

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Spiegel-Gebäude

Blick auf das „Spiegel“-Gebäude in Hamburg

Köln – Der Journalismus lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Die wichtigste und entscheidende Voraussetzung ist: Vertrauen. Ohne Vertrauen kommt kein Recherche-Gespräch zustande. Ohne Vertrauen fände kein Text in die Zeitung, dessen Aussagen der verantwortliche Redakteur nicht sämtlich an Ort und Stelle mit eigenen Augen verifiziert hätte – eine absurde Vorstellung.

Es gibt im deutschen Presserecht unter dem Namen „Agenturprivileg“ sogar so etwas wie institutionalisiertes Vertrauen: Journalisten dürfen die Meldungen anerkannter Presseagenturen ohne eigene Nachprüfung übernehmen. Diese Regelung soll die Funktionsfähigkeit der Medien sicherstellen. Sie gilt in erweiterter Form auch beim sogenannten „Laienprivileg“: Wer als Zeitungsleser, Radiohörer oder Fernsehzuschauer in gutem Glauben aus seriösen Quellen zitiert, wird nicht zur Verantwortung gezogen, wenn sich die Inhalte als unzutreffend erweisen.

Vertrauen – ein hohes und zerbrechliches Gut

Erkennbar fußt diese Praxis auf einem (stillen) Einvernehmen darüber, welche Quellen als seriös einzustufen sind – oder anders gesagt: Welchen Journalisten eine wahrhaftige und glaubwürdige Berichterstattung zugetraut werden darf. Das nun ist ganz offenkundig eine Voraussetzung, die kein Medium garantieren kann. Damit erweisen sich Vertrauen und Vertrauenswürdigkeit – die beiden Seiten der gleichen kommunikativen Medaille – als ebenso hohes wie zerbrechliches Gut.

Darum ist ein interner Faktencheck, ein Inhalte-Controlling durch die Redaktionen so wichtig. Das gilt für jeden Journalisten – auch für den Star-Reporter des „Spiegel“ Claas Relotius, der nach Darstellung des Nachrichtenmagazins Teile seiner Artikel gefälscht oder in Gänze frei erfunden hat.

Kontrolle ist gut, kann aber auch schaden

Zurecht wird die „Dokumentation“ des „Spiegel“ für ihre Zahlen-Daten-Fakten-Huberei gerühmt. Autorinnen und Autoren können lange Geschichten vom noch längeren Arm der Hamburger Dokumentare erzählen. Doch Relotius’ Arm war länger. Nicht weil er seine Täuschungen augenscheinlich mit einer Perfektion ganz eigener Art betrieben hat, sondern weil es zum Prinzip der Textgattung Reportage gehört, dass sie Intimes, Vertrauliches festhält und die unhintergehbare Perspektive des Reporters wiedergibt. Das im Journalismus übliche „Vier-Augen-Prinzip“ als Kontrollmechanismus anzuwenden, würde bedeuten, Reporter nur noch im Doppelpack loszuschicken. Und warum dann nicht gleich zu dritt? Solch eine Infinitesimal-Rückversicherung wäre das Ende des Journalismus. Kontrolle ist gut – zur Vermeidung sachlicher Fehler. Kontrolle ist tödlich – als eine Apparatur des Misstrauens.

Eine Zeitlang war es in Mode, von den Medien positiv als der „vierten Gewalt“ im Staat zu sprechen. Das hat den Journalisten als Nobilitierung ihrer Arbeit gut gefallen. In der Theorie der Gewaltenteilung ist die Rolle der „vierten Gewalt“ für die Medien nicht vorgesehen. Man kann sie aber sehr wohl als Verdichtung der individuellen Rechte auf Meinungs- und Redefreiheit verstehen oder als Verlängerung des Prinzips der repräsentativen Demokratie: Journalisten übernehmen stellvertretend die Aufgabe, Informationen zu beschaffen und zu verbreiten, die für jeden Bürger wie für die Gesellschaft als Ganzes bedeutsam sind.

Auswirkungen auf die gesamte Zunft

In einer Phase verstärkter Medienkritik wurde die Rede von der „vierten Gewalt“ sowohl von Staatsrechtlern als auch von Politikern als Teil einer medialen Hybris bestritten. Und womöglich hatte das Selbstverständnis der Branche zeitweilig tatsächlich etwas Abgehobenes: „Bloß keine Medienschelte!“, war ein Grundsatz der (politischen) PR, den man nicht ungestraft verletzte. Doch längst ist das Pendel zurückgeschlagen. Der Schwung kam vom „Fake News“-Demagogen Donald Trump in den USA und den „Lügenpresse“-Rhetorikern hierzulande. Hier geht es um nicht weniger als die Aushöhlung der Pressefreiheit von innen. Claas Relotius ist vielleicht kein Totengräber der offenen Gesellschaft und der Demokratie. Aber er drückt ihren Feinden die Schaufel in die Hand.

Relotius mag dem frühen Hype um sein Talent, dem Sog seiner eigenen Texte, dem Suchtfaktor schreiberischer Brillanz erlegen sein. Das ist bitter – für die betrogenen Redaktionen, für die irregeführten Leser, irgendwie auch für den Autor selbst, der nach den unablässigen Lobeshymnen auf seine Leistungen bei sich daheim eigentlich schon lange sämtliche Spiegel verhängt haben müsste. Aber so etwas kommt vor, und hätte Relotius seine „Reportagen“ als fiktionale Texte verfasst, deren Wahrheitsgehalt im „Ja, so könnte es gewesen sein“ liegt, dann würde ihm Selbstverliebtheit jetzt womöglich als Künstlermarotte zugute gehalten.

Das wirklich Schlimme ist, dass Relotius’ Egotrip seine ganze Zunft, den Berufsstand der Journalisten, an einem Punkt trifft, an dem sie letztlich schutzlos ist. Das Werben um Vertrauen ist in dieser Situation mehr denn je die Bitte um einen Vorschuss. Das beinhaltet bestmögliches Bemühen um Vertrauenswürdigkeit und – ein Stück Demut.

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