Lesung in KölnWie Stewart O'Nan amerikanische Träume platzen lässt

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Der amerikanische Autor Stewart O'Nan  

Köln – Seinen Beinamen „Ocean State“ verdankt Rhode Island, der kleinste Bundesstaat der USA, seiner langen Küste. 640 Kilometer Unendlichkeit verheißender Strand, ein Atlantik voller Möglichkeiten.

Oder eine Sackgasse: „Auf dem letzten Kilometer“, schreibt Stewart O’Nan in seinem neuen, 19.  Roman, „ist das Land vollkommen flach, von verfallenen Steinmauern begrenzte Wiesen, Teiche und sumpfige Böden, umgeben von zottigem Schilf. Die pastellfarbenen Motels und grauverschindelten Ferienhäuser sind verriegelt, die Einfahrten abgesperrt. KEINE WENDESTELLE, verkündet ein Schild, das an einem weißgetünchten  Betonblock  befestigt ist, als könnte sie noch umdrehen.“

Schäferstündchen am Strandparkplatz

Das kann Beatriz Alves, genannt Birdy, natürlich nicht, denn wie alle, fast alle, Charaktere in „Ocean State“ folgt die Highschool-Schülerin keinem ausgeklügelten Lebensplan,  sondern allein ihren unmittelbaren Sehnsüchten. Und die kreisen sämtlich um Myles, den großen Schwarm ihrer Jahrgangsstufe. Mit dem hat sie sich am Strandparkplatz zu einem heimlichen Schäferstündchen verabredet. Es regnet, aber das macht nichts. Myles’ Eltern sind wohlhabend und besitzen eine Strandvilla.

Dass sie sich hier treffen, darf niemand wissen, denn Myles ist seit drei Jahren mit Angel zusammen. Die ist nicht weniger beliebt als er, aber stammt wie Birdy aus ärmlichen Verhältnissen. Und obwohl sie weiß, dass sie Myles bald an irgendeine Kommilitonin an einem College, das sie sich nicht leisten kann, verlieren wird, bleibt er für den Augenblick ihre einzige Hoffnung auf ein glanzreicheres und weniger prekäres Leben.

Wir wissen schon, dass es nicht gut ausgeht

Dass das  nicht gut ausgeht, wissen wir schon seit dem ersten Satz des Romans: „Als ich im achten Schuljahr war, half meine Schwester dabei, ein anderes Mädchen zu töten.“ Die Ich-Erzählerin ist Marie, Angels dreizehnjährige Schwester, das vergessene Nesthäkchen der kleinen Familie, denn auch Carol, die alleinerziehende Mutter, ist entweder auf der Suche nach dem oder auf der Flucht vor dem jeweils neuesten Verehrer.

Dass sich O’Nan nicht für das Whodunnit interessiert, hat er mit dem ersten Satz klargestellt, „Ocean State“ ist freilich auch kein Procedural, die polizeiliche Ermittlungsarbeit findet nur im Hintergrund statt; es ist wohl auch nicht allzu schwer, den jugendlichen Tätern auf die Schliche zu kommen.

Im armen Osten der USA 

Man könnte also von einem Entwicklungsroman sprechen, mit der bitteren Ironie, dass es diesen Figuren an einem Ort oder einem Ziel mangelt, zu dem sie sich hin entwickeln könnten. Es gibt keine Wendepunkte in diesen Leben und erst recht keine unbegrenzten Möglichkeiten, das genau ist ja die Definition der Armut. Stewart O’Nan hat seinen Roman im Jahr 2009, nach der großen Finanzkrise, angesiedelt. Fraglich, ob es heute besser aussieht, im deindustrialisierten Osten der USA.

Die fatalen Leidenschaften spielen sich zwischen den Altersheimen und Supermärkten ab, in denen die Frauen und Mädchen für den Mindestlohn arbeiten, Maries Großmutter trauert der alten Garn-und-Schnur-Fabrik nach, in der sie ihr Leben lang gearbeitet hat und in deren Ruine sich die Enkelin herumtreibt, wenn sie nicht gerade fernsieht und dabei Pizza in sich reinstopft. Der Rest ist Alkohol und das Paradies die Seniorenresidenz, die Carols neuester Liebhaber vorzeitig bezogen hat.

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Dennoch ist „Ocean State“ alles andere als eine deprimierende Lektüre,  was an der schier grenzenlosen Empathie liegt, die  der Autor seinen Charakteren entgegenbringt. Die äußert sich freilich nicht in übertriebener Nachsicht – hier wird gar nichts entschuldigt, auch nicht durch die sozialen Umstände – sondern in der Genauigkeit, mit der O’Nan – beziehungsweise seine junge Erzählerin Marie – diese Umstände beobachtet. 

Auch diese Empathie hat ihren Preis. Wer Zeugnis ablegen will von der Lüge des amerikanischen Traums, der ist erst recht verdammt dazu, in seiner Sackgasse zu verharren.

Stewart O’Nan liest am Dienstag, den 3. Mai im Literaturhaus Köln aus seinem Roman.

„Ocean State“, übersetzt von Thomas Gunkel, Rowohlt, 252 S., 24 Euro

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