Serie „Traum Reisen“Spurensuche am Takuplatz

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Chinesische Seide

Köln – Die Reisepläne habe ich vorerst aufgegeben, es ist alles abgesagt. Wenn ich morgens aufwache, bleibe ich eine Weile liegen, horche nach der Straße, es ist so still dort. Am Schreibtisch tauche ich ab für einige Stunden, erst der Paketbote schreckt mich wieder auf, fast jeden Tag, irgendwer im Haus bestellt sich laufend neue Kleider, neue Schuhe, und der Mann vom Logistikunternehmen fragt nicht mehr, ob ich etwas für die Nachbarn annehme, er kommt einfach hoch und drückt mir den Karton in die Hand, inzwischen glaube ich, er klingelt sowieso nur noch bei mir, weil er weiß, dass ich da bin und die anderen nicht. Wenn ich an die Tür gehe, sieht er mich manchmal etwas mitleidig an, ich möchte ihm dann sagen, schon gut, ich schreibe an einem Buch, aber ich habe Angst, dass er dann nur irritiert nicken würde, vielleicht würde er auch sagen, klar, aber in einem etwas zu hohen Tonfall, fast schon fragend, also lasse ich es besser, vielleicht öffne ich auch einfach nicht mehr oder ziehe mir vorher eine Hose an.

In einem fensterlosen Raum

Wenn es dämmert, gehe ich hinaus, streife durch die Wohngebiete, sehe mir die Hausfassaden an, die Hecken und Höfe, an einem staubigen Erdgeschossfenster warten immer schon die Katzen, ich trete heran und sie stellen sich auf, buckeln, miauen, werfen sich gegen die Fensterscheibe, ich könnte hier Stunden verbringen, aber irgendwann gucken die Leute, also bleibe ich nicht lange. Abends ist mein Schrittzähler zufrieden, ich lese, bis es hell wird.

An einem Montag fahre ich zum Sender, ich soll einen Text einsprechen, aber die Studios sind knapp wegen der Hygienemaßnahmen, also führen sie mich in den Keller, in einem fensterlosen Raum verhasple ich mich immer wieder an der gleichen Stelle, die Technikerin sagt, immer mit der Ruhe. Sie sitzt am anderen Ende des Flures, ich höre sie nur auf den Kopfhörern, erahne sie außerdem auf dem verschwommenen Bild eines Monitors, zu dem ich aufblicken muss, weil er knapp unter der Decke hängt. Ja, sage ich und nicke. Entschuldigung.

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Yannic Han Biao Federer

Als ich ins Freie trete, stehe ich etwas neben mir, an einem Büdchen kaufe ich eine Cola und steige in die Bahn, es ist die falsche, ich merke es erst hinter Ehrenfeld, weil ich alte Nachrichten beantwortet habe, statt auf die Strecke zu achten, an der Iltisstraße setze ich mich ins Wartehäuschen, es dauert, ich bin müde und genervt, es ist kein guter Tag.

Ich google Iltisse, gerate auf die Begriffsklärungsseite von Wikipedia. Der Iltis ist eine Raubtiergattung aus der Familie der Marder, ein Bundeswehrgeländewagen und ein Imkereigerät, mit dem man Bienenvölkern eine fremde Königin implantieren kann. Außerdem ein Kanonenboot der Kaiserlichen Marine. Es war bei der Niederschlagung des sogenannten Boxeraufstandes beteiligt. Es hat die Taku-Forts beschossen. Moment, denke ich, da bin ich doch eben dran vorbeigefahren. Ich stehe auf, sehe die Straße hinunter, über den Dächern der Funkturm, von der Haltestellenplattform trete ich auf die Fahrbahn und hinüber auf den Gehweg, gehe in die Richtung, aus der ich gekommen bin.

Der Takuplatz ist ruhig und grün, einige Männer spielen Boule, zwei Frauen unterhalten sich, ihre Hunde spielen. Lucy, mach langsam!, ruft eine, ich glaube, sie meint den Terrier. Zwischen Kiosk und Iltis-Markt geht es rechts durch einen Torbogen in die Lansstraße, sie ist nach dem Kapitän der SMS Iltis benannt, ergoogle ich, man möchte hier einziehen, eine gebogene Reihung zweistöckiger Gründerzeithäuser, Bäume, Sträucher, Blumenkästen vor den Sprossenfenstern, in den Beeten steht junger Rhododendron. Eigentlich gibt es keinen Anlass, an kaisertreue Schiffsführer, koloniale Abenteurer, an imperialistische Aggression zu denken. An die erzwungene Einfuhr von Opium, an die Zerstörung der chinesischen Wirtschafts- und Finanzstruktur, an die Verarmung der unterworfenen Bevölkerung. Plötzlich das Konterfeit eines heldisch dreinblickenden Mannes, kahlköpfig und uniformiert, gerahmt an einer der Hauswände. Darunter eine Tafel: Im Jahr 1900 habe in China der Boxeraufstand getobt. Die Boxer seien ein chinesischer Geheimbund gewesen. Unter dem Befehl von Korvettenkapitän Lans sei das Kanonboot Iltis in den Peiho-Fluss ausgelaufen, um die Takuforts von den Belagerern zu befreien. Dieses Ereignis habe die Ehrenfelder Arbeiterwohnungsgenossenschaft zum Anlass genommen, die umliegenden Straßen entsprechend zu benennen.

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Nachts lese ich die Rede, die Wilhelm II in Bremerhaven hielt, im Juli 1900, als sich das Expeditionskorps nach China aufmachte. „Pardon wird nicht gegeben“, befahl er. „Gefangene nicht gemacht. Wer euch in die Hände fällt, sei in Eurer Hand. Wie vor tausend Jahren die Hunnen unter ihrem König Etzel sich einen Namen gemacht, der sie noch jetzt in der Überlieferung gewaltig erscheinen läßt, so möge der Name Deutschland in China in einer solchen Weise bekannt werden, daß niemals wieder ein Chinese es wagt, etwa einen Deutschen auch nur scheel anzusehen.“

Berüchtigter Schießbefehl

Der Leiter des Ostasienkorps war Lothar von Trotha. Der Kaiser muss mit ihm zufrieden gewesen sein. Er schickte ihn später nach Namibia, wo er glaubte, einen „Rassenkampf“ ausfechten zu müssen. Als ich auf Trothas berüchtigten Schießbefehl stoße, denke ich, ja, das hat seiner Majestät sicher gefallen. „Innerhalb der Deutschen Grenze wird jeder Herero mit oder ohne Gewehr, mit oder ohne Vieh erschossen, ich nehme keine Weiber und Kinder mehr auf, treibe sie zu ihrem Volke zurück oder lasse auch auf sie schießen.“ Das war der erste deutsche Genozid.

Irgendwann schrecke ich aus wirren Träumen, ich bin durchgeschwitzt, liege auf Büchern, die ich aus dem Bett kehre, sie fallen zu Boden wie schlaffe Körper, dann bin ich wach, die Stille auf der Straße ist drückend, lähmend fast, ich starre zur Decke, die ich nicht sehe, warte, bis der Morgen graut.

Am Morgen sitze ich wieder am Romanmanuskript, aber ich kann mich nicht konzentrieren, also google ich weiter, entdecke einen Karnevalsverein, der sich in den 70er Jahren in einem Brauhaus an der Takustraße gegründet hat, sie nennen sich Ihrefelder Chinese. In der Fotogalerie klicke ich mich durch Aufnahmen der letzten Jahre, sechs Männer, gut gelaunt, sie tragen eine Uniform mit Drachenstickereien, vermutlich Polyester, echte Changshan-Gewänder wären aus Seide. Die Gesichter der Männer sind gelb geschminkt, von den Augen haben sie sich schwarze Striche zu den Schläfen gezogen, ich brauche eine Weile, um darin die Imitation von Schlitzaugen zu erkennen.

Sching schang schong, Chinese im Karton.

Am Erdgeschossfenster ist heute nur eine Katze, ich frage mich, wo die andere abgeblieben ist. Ich sollte nicht über den Karneval schreiben, denke ich, als ich weitergehe. Zu gefährlich.

Die Serie

In diesem Sommer ist alles anders. Urlaub, wie wir ihn kannten, gibt es nicht. Die Unsicherheit reist immer mit. Viele bleiben da lieber gleich zu Hause. In unserer Fantasie können wir jedoch reisen, wohin wir wollen. Wir haben Kölner Autorinnen und Autoren gebeten, für uns auf „Traum Reise“ zu gehen. 

Yannic Han Biao Federer wurde 1986 als Sohn einer Indonesierin und eines Deutschen in Breisach geboren. 2019 erschien sein erster Roman, „Und alles wie aus Pappmaché“. In Klagenfurt gewann er den 3sat-Preis. 

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