Zum Tod von Ali MitgutschWimmeln, wie das Leben selbst

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Ali Mitgutschs Jahrmarktswimmelbild 

München – Das kopflose Gespenst, das aus dem Burgturmfenster schießt. Der finstere Mordbube mit der Augenklappe. Sein Opfer, das sich kopfüber vor ihm versteckt und dem schon Blut aus dem Schädel tropft. Die runzlige Hexe, in deren Profil Nase und Kinn einen Halbmond bilden. Die drei Geisterkinder auf dem Soziussitz ihres Besens. 

Die Geisterbahn, die ganz oben in der linken Bildhälfte von Ali Mitgutschs Jahrmarktsbild lauert, habe ich mir als Kind immer zuerst angeschaut. Nur um ganz sicherzugehen, dass sich keine der beschriebenen Figuren bewegt hat, seit ich das letzte Mal hinguckte.

Viel später, als ich meinen eigenen Kindern eines der 62 Zentimeter hohen Riesenwimmelbücher von Mitgutsch schenkte – es war größer als sie selbst – fiel mir zum ersten Mal auf, dass ich nie eine Geisterbahn befahren hatte. Die Mitgutsch-Monster reichten völlig aus.

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Ali Mitgutschs Jahrmarktswimmelbild 

Ali Mitgutsch, der am Montag im Alter von 86 Jahren gestorben ist, hat das Wimmelbild zwar nicht erfunden, da sind ihm Hieronymus Bosch und Pieter Bruegel der Ältere um einige Jahrhunderte zuvorgekommen. Aber der Münchner Maler war mit seinen 1968 im Ravensburger Verlag erschienen Buch „Rundherum in meiner Stadt“ derjenige, der das eigentliche Publikum für das Genre der Gleichzeitigkeit gefunden hat. Niemand kann so vollständig in die Detailfreude der absoluten Gegenwart eintauchen,  wie Kinder.

Ein Bild. Hundert Geschichten. Ihnen mit den Augen nachzuspüren, heißt, sie zu erleben.

Suchen sie selbst: Ein Mann pustet unermüdlich Seifenblasen; ein Zweiter bringt sie mit ausgestrecktem Finger zum Platzen. Eine Katze streicht mit ihren Jungen über die Dächer der Schaustellerwagen; eine Hündin kläfft mit ihren Welpen das Kettenkarussell an. Zwei streitende Geschwister reißen an einer Brezel. Ein Mann wäscht sich abseits des Tumults seelenruhig den Oberkörper; ein anderer bläst, nur für sich, einen Luftrüssel auf, man kann auch Jahrmarktspfeife dazu sagen. Ist das eigentlich traurig, wenn man ganz alleine lustig ist?

Ein Bild als Karussell

Die Fahrgeschäfte sind im Rondell angeordnet, der Blick dreht selbst im Kreis. Ein Laternenpfahl dient als vertikale Achse und an seinem Stamm hält sich ein grüngesichtiger Mann fest, dem sich ebenfalls alles dreht und der sich im nächsten Moment, der niemals kommt, wird übergeben müssen. Ob er sich zu oft mit der Schiffsschaukel überschlagen hat, oder das Bierzelt gefunden hat, ganz rechts, drei Fässer stehen davor?

Als Horror vacui, also das Erschaudern vor der Leere, bezeichnet man in der Kunst den Zwang, alle leeren Flächen füllen zu müssen. In Gegensatz zu seinen künstlerischen Epigonen, man denke etwa an Martin Handfords „Wo ist Walter?“-Bücher, geht es Mitgutsch nicht um die Überforderung des Blickes, man hat schon besser besuchte Rummelplätze gesehen.

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Für Mitgutsch sind Menschen kein Ornament, sondern Erzeuger und Träger von Geschichten. Und jeder seiner Figuren und ihrer Geschichten widmet er die gleiche, liebevolle Aufmerksamkeit. Weshalb es in seinen Bildern trotz der den Überblick gewährenden schrägen Aufsicht keine perspektivischen Verzerrungen gibt. Es ist eine Welt ohne Fluchtpunkt, in der niemand am Horizont verzwergt, sondern jeder in unmittelbarer Präsenz vor die Augen des Betrachters tritt.

In seinen Mikrokosmen hat Ali Mitgutsch auch die Zeit ihrer Entstehung aufbewahrt. Weshalb man in seinen Wimmelbildern auf die Suche nach der verlorenen bundesrepublikanischen Welt gehen kann: Ungesicherte Riesenrad-Gondeln, unbeaufsichtigte Kinder. Damals, so scheint es, wog man sich noch grundsätzlich in Sicherheit. Und übte sich, egal welchen Alters, in allerhand albernen Tätigkeiten, deren einziger Zweck darin bestand, Spaß am Alltag zu haben. Was hier wimmelt, das ist das Leben selbst. 

Ali Mitgutschs „Rundherum in meiner Stadt“ und auch seine anderen Wimmelbücher sind im Ravensburger Verlag erschienen.

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