Leserbriefe zum Lehrkräfte-Mangel:Seit Jahren am Bedarf vorbeigeplant

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Auf einer roten Tafel mit der Überschrift „Stundenplan - Stundenplanänderung“ hängen zahlreiche Mitteilungen im DIN-A4-Format.

Infolge von Lehrermangel sind zahlreiche Stundenplanänderungen erforderlich.

Die Pläne des NRW-Bildungsministeriums gegen Lehrermangel sind zu begrüßen, ändern nach Meinung von Lesern aber nichts an der generellen Reformbedürftigkeit des Schulsystems und an seiner Unterfinanzierung.  

NRW-Bildungsministerin Fellers Konzept ist gut – Es reicht nur nicht – Kommentar von Frank Olbert (14.12.)

Arbeitsbedingungen im Offenen Ganztag verbesserungsbedürftig

Um Chancengleichheit durch Bildung zu stärken und die Zukunft der Kinder unseres Landes zu sichern, ist es richtig, das Potenzial von Quereinsteigern in Schulen zu nutzen, formale Hürden abzubauen und gleiche Bezahlung für Grundschullehrkräfte gegenüber denen an Gymnasien einzuführen. Gerade vor dem Hintergrund wachsender psychosozialer Herausforderungen in Grundschulen ist dies lange überfällig. Doch die Herausforderungen enden nicht mit der Mittagspause!

Der begrüßenswerte Ansatz der Ministerin übergeht leider den nicht mehr wegzudenkenden Offenen Ganztag: Dort werden die Mitarbeitenden, oft Quereinsteigerinnen, nicht einmal beim Land angestellt. Durch die Auslagerung der Betreuung an freie Träger sind Arbeitsbedingungen und Bezahlung dramatisch schlechter als im Lehrerberuf – Vollzeitstellen, von denen man leben kann, meist ausgeschlossen. Das ist unwürdig und macht diesen systemrelevanten Beruf noch unattraktiver als den der Grundschullehrkräfte.

Es wird Zeit, auch den Offenen Ganztag als Bildungsangebot und Verpflichtung des Landes zu begreifen, adäquat auszustatten und zu bezahlen – ohne auf Master-Abschlüsse zu warten. Sonst ist absehbar, dass dieses System zusammenbricht – mit fatalen Folgen für Familien, Arbeitgeber und vor allem für die Chancen unserer Kinder. Thomas Diefenbach Köln

Verschiebung von Lehrpersonal keine Lösung für Personalnot

Na bravo! Nun werden also höchst qualifizierte Mathematiklehrer vom Gymnasium abgeworben, um i-Dötzchen das Rechnen bis 100 und das kleine Einmaleins beizubringen. Lohnt sich für sie sogar, da sie demnächst auch dort mit Eingangsgehalt A 13 besoldet werden! So ersparen sie sich dann die lästige und anspruchsvolle Korrektur von Klausuren in der gymnasialen Oberstufe und die Bewältigung der Abiturprüfungen.

Was steht dem übrigens im Grundschullehrerbereich gegenüber? Beim bereits derzeit am Gymnasium schon existierenden Lehrermangel in den Mint-Fächern – und hier braucht man derart qualifiziertes Personal, um Schüler zur Studienreife zu führen – führt dies an dieser Stelle zu einer noch größeren Katastrophe. Wie weit denkt man eigentlich im Bildungsministerium NRW? Marion Leitzen Zülpich

Sonderpädagogische Förderung auf Bruchteil zusammengestrichen

Als Lehrerin einer Gesamtschule im Regierungsbezirk Köln möchte ich besonders auf die dramatische Situation im Gemeinsamen Lernen hinweisen, wofür diesen Kindern aktuell die sonderpädagogische Förderung – wie Lernbüros, Unterstützung in Doppelbesetzung, spezielle bedarfsspezifische Unterstützungsmaßnahmen, Beratungen und zielgerichtete, bedarfsorientierte Intervention – auf einen Bruchteil zusammengestrichen worden ist.

Die sonderpädagogischen Lehrkräfte werden vielmehr im Gesamt-Vertretungsunterricht eingesetzt. Da wir in NRW inzwischen bei etwa zehn Prozent Schülerschaft mit sonderpädagogischem Förderbedarf angelangt sind, konnte die Situation an vielen Schulen schon vor der Krankheitswelle als extrem schwierig bezeichnet werden. Die Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf haben einen Anspruch auf Förderung! Wer gibt ihnen aktuell eine Stimme? Sie bezahlen gerade den Preis für eine Bildungspolitik, die schon seit Jahren völlig am Bedarf vorbeigeplant wurde.

Dabei erscheint es geradezu als Fantasterei, wenn Bildungsexperten zu Recht eine bedarfsorientierte, zielgerichtete Förderung aller Schülerinnen und Schüler fordern, die auf einem flächendeckenden Monitoring basiert, nach dem Beispiel von Hamburg. Die Ausgaben pro Schüler in der Hansestadt liegen aber bei rund 10 000 Euro, während NRW mit 7000 Euro die niedrigste Quote aller Bundesländer aufweist. Monitoring und Tests führen wir besonders in Mathematik und Deutsch durch. Doch was bringt dies, wenn die Ressource zur zielgerichteten Unterstützung fehlt? Sara Schneiderhahn Köln

„Hehre Versprechen des Ministeriums nicht einlösbar“

Erschütternd und zugleich realitätsnah berichten zwei Lehrerinnen, warum sie dieses System nicht mehr mittragen können. Sie steigen aus und ich verstehe diesen Schritt. Er ist ein einziger verzweifelter Hilferuf an die Verantwortlichen: Tut endlich etwas! Denn erstens wird eine Arbeit nicht automatisch dadurch attraktiver, dass es anderen noch schlechter geht. Viele Lehrkräfte bleiben aus Mangel an realistischen Alternativen und wursteln sich so gut es geht durch den Alltag.

Zweitens: Dieser Beruf verlangt eine sehr anspruchsvolle, lange Ausbildung, begleitet durch Forderungen wie „jedes Kind da abholen, wo es steht“. Jeder weiß jedoch, dass das hehre Versprechen des Ministeriums unter den waltenden Umständen schlicht nicht einlösbar ist. Drittens: Der Lehrerberuf war immer schon anspruchsvoll, aber die Belastung hat in den letzten Jahren erheblich zugenommen. Man kann nicht hunderttausende Kinder und Jugendliche mit einem berechtigten Anspruch auf Betreuung und Bildung ins Land holen und man kann nicht jahrelang die Trommel für mehr Kindersegen bei den Einheimischen rühren, ohne rechtzeitig für die dann nötige Infrastruktur zu sorgen. Genau das ist aber geschehen.

Der Lehrerberuf war immer anspruchsvoll, aber die Belastung hat in den letzten Jahren erheblich zugenommen

Man kann auch nicht völlig überhastet die Inklusion versprechen und verordnen und dann die Schulen damit quasi alleine lassen! Man kann ferner nicht jahrelang auf die angeblich „faulen Lehrer“ eindreschen und dann erwarten, dass junge Menschen sich durch diesen Beruf angezogen fühlen, zumal die Bezahlung auch nicht berauschend ist. Margret Schmitz Pulheim

Lehrpersonal sollte Spielräume besser nutzen

Natürlich ist es einerseits ein Kapitalverbrechen, wie unsere Bildungsverwaltungen das Schulwesen verkommen lassen. Vielsagend auch, dass man frustrierte Lehrkräfte nicht umwirbt dazubleiben! Aber dass jetzt Ausstiegs-Coaches ihr Geld damit verdienen, die Personaldecke weiter auszudünnen, ist krass – wir bräuchten doch Mutmach-Coaches!

Nichts gegen die schulischen Visionen der ausgestiegenen Gymnasiallehrerin – aber in Notzeiten muss man halt mal Standard fahren. Hat sie ihren persönlichen Spielraum vielleicht zu wenig ausgeschöpft? Jede und jeder kann doch den Lehrplan selbst etwas abspecken – außer vor dem Abitur. Und jede und jeder kann sich doch mal informell einen Korrekturtag nehmen, wenn man die Kurve gar nicht kriegt.

Apropos individualisiertes Lernen: Man muss am Gymnasium nicht jeden Schüler mit seinem persönlichen Arbeitsblatt verwöhnen. Hier mal individuelle Hilfen für Schwächere, dort mal eine anspruchsvolle Projektaufgabe für Stärkere, das reicht doch. Oder aber die Schüler haben die falsche Schulform gewählt. Michael Felten Köln

Eine Lehrerin sitzt auf dem Boden eines Klassenzimmers zwischen leeren Stühlen, hinter sich die Tafel. Auf dem Schoß hält sie einen Stapel von Heften im DIN-A4-Format. Eine Hand aufgestützt, schaut sie frustriert und traurig nach links.

Viele Lehrer resignieren angesichts von Personalmangel und Überforderung.

„Missstände werden seit Jahren diskutiert, ohne dass sich etwas ändert“

Die von den beiden Lehrerinnen vorgebrachten Klagen betreffen Mängel in Schulsystem und Studium, die mir seit 1972 bekannt sind: überfrachtete Lehrpläne, Notensystem eins bis sechs, ständige, meist schriftliche Leistungsnachweise, überfüllte Klassen und Kurse, zu wenig Lehrpersonal, das bis aufs Blut ausgebeutet wird. Früher wurde ich bei Nennung meines Berufs wegen angeblich arbeitsfreier Nachmittage und der vielen Ferien angepflaumt. Heute begegnet man mir mit verwundertem Mitleid, wie ich es als Lehrer nur so lange ausgehalten habe.

2022 haben wir immer noch ein Schulsystem, das sich – von „Reförmchen“ abgesehen – auf dem des 19. Jahrhunderts ausruht. Nur die Herausforderungen sind größer geworden: heterogene Schülerschaft, individuelle Förderung, digitale Medien, Werteverfall, mehr Unterrichtsstörungen. Nicht ganz, aber fast neu ist die Entwertung des Lehrerberufs inklusive Ausbildung durch immer mehr Seiteneinsteiger, die zum Teil nicht in der Lage sind, fachlich, methodisch-didaktisch und pädagogisch qualifiziert zu unterrichten.

All die beweinten Missstände werden seit Jahrzehnten diskutiert und immer wieder durch dieselbe Mühle gedreht, ohne dass sich Grundlegendes ändert. Mein Fazit nach fast 40 Jahren Schuldienst: Das System ist nicht zu retten, nicht reformierbar. Man kann das Bestehende nur noch komplett aufgeben und etwas völlig Neues aufbauen. Alternativen liegen seit Jahren auf dem Tisch. Peter Jobke Kürten

Marodes Bildungssystem braucht Neuausrichtung

Unser Bildungssystem, das aus den 1970er Jahren stammt, ist mehr als marode. Die Gründe sind unter anderem: eine Verschlechterung der Rahmenbedingungen in den Kindergärten, wie Qualifikation des Personals, Gruppengrößen, ständige Überbelegung der Gruppen. In den Grundschulen hat man Ende der 1990er Jahre den Offenen Ganztag eingeführt, die räumlichen und personellen Voraussetzungen aber noch nicht einmal für dieses Modell konsequent geschaffen, sondern ein finanzielles Billigmodell auf dem Rücken der Kinder etabliert, das bis heute existiert. Funktionierende Schulsysteme in nordischen Ländern und den Niederlanden wurden in den 1990er Jahren während zahlreicher Studienreisen bestaunt, die Rahmenbedingungen in Deutschland aber nicht geschaffen.

Was nun? Es müssen ganzheitliche Lernansätze für Kinder ab dem Kindergartenalter mit individueller Förderung eingeführt werden, wie es schon im Kindergartengesetz des Landes NRW in den 1970er Jahren stand. Dieser Ansatz muss bis zum Ende der Grundschulzeit als rhythmisierter Unterricht fortgeführt werden. Gekoppelt werden sollte dies mit der Verlängerung der Grundschulzeit bis zum Alter von zwölf Jahren.

Daran anschließen sollte nur noch eine weiterführende Schulform mit dem Ansatz ganzheitlichen, individuellen, projektbezogenen Lernens mit multidisziplinären Pädagogen-Teams aus Handwerkern, Pädagogen, Sozialarbeitern, Technikern. Diese Teams sollten sich als Lernbegleiter verstehen. So hätten Kinder und Jugendliche auf Dauer Freude zu lernen, da sie in diesem System Interessen entdecken, daraus Lernprozesse gestalten und Kompetenzen entwickeln können, die für sie und die Gesellschaft von Bedeutung sind. Es klappt – dafür gibt es viele Beispiele in anderen Ländern. Denn nur wer von klein auf mit Freude lernt, lernt nachhaltig und dauerhaft! Margit Göckemeyer Leverkusen


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