„Opa, erzähl doch mal“Zu Besuch beim vermutlich ältesten Blogger Deutschlands

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Peter Meisen, 100 Jahre alt und Blogger

  • Immer wieder baten die Enkel ihren Opa Peter Meisen, von früher zu erzählen.
  • Seine Erzählungen und Mails waren so schön, dass die Idee entstand, die Geschichten aus 100 Jahren Leben einem größeren Publikum zugänglich zu machen.
  • Inzwischen ist Peter Meisen der vielleicht älteste Blogger Deutschlands
  • Ein Besuch im Voreifel-Örtchen Rott.

Roetgen-Rott – „Na ja, wir wollten halt ein Zeichen setzen, ein kleines“, sagt Peter Meisen. Sein verschmitztes Lächeln wechselt sekündlich zwischen gespielter Unschuld und echter Freude. Meisen erzählt davon, was vor 80 Jahren passiert ist.

Er sitzt in seinem braunen Ledersessel mit weißem Schaffell-Bezug, vor dem Kamin seines Holzhauses im Voreifeldörfchen Rott. Hinter ihm, auf dem Kaminsims, stehen Fotos der Kinder und Enkel und Urenkel und von seiner Frau Maria, die 1995 gestorben ist. An der Wand hängen Geweihe von Rotwild, das der ehemalige Jäger geschossen hat. Vor ihm, auf einer kleinen Kommode, sind die geschnitzten Heiligenfiguren aufgestellt, die ein Freund ihm geschenkt hat; der Heilige Antonius, Maria, Josef und eine Krippendarstellung mit Jesuskind.

Er sei ein tiefgläubiger Mensch, sei voller Gottvertrauen, sagt Meisen, und zeigt in Richtung Antonius, als Heiliger zuständig für alles Verlorengegangene. Auch der habe ihm schon häufig geholfen, da könne der Reporter ruhig lachen. Aber halt, unterbricht Meisen sich selbst. Zuerst wolle er doch noch erzählen, was im Sommer 1942 passiert sei. In der Kaserne, mit dem Unteroffizier, „einem dieser Hitler-Patrioten, die sich schon in der HJ-Führung hervorgetan“ hätten. Und die ihre Untergebenen bei jeder Gelegenheit drangsaliert und gequält hätten.

Die Regenrinne unter Strom gesetzt

Meisen ist im August hundert Jahre alt geworden. Und er ist Internet-Blogger, womöglich der älteste, den es in Deutschland gibt. Auch wenn er mittlerweile nur noch mit Rollator gehen kann, „mein Gehirn ist tiptop“, sagt er.

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Und tatsächlich ist es verblüffend, wie detailliert er beispielsweise davon erzählen kann, wie seine Kameraden und er als gelernter Elektriker vor der gefühlten Ewigkeit von acht Jahrzehnten die Regenrinne unter Strom gesetzt hatten, gegen die der verhasste Unteroffizier häufig nachts betrunken urinierte. „Wir brauchten dazu einen Stromprüfer, um an der Steckdose den Plus-Pol festzustellen, und wir brauchten einen flexiblen Draht von mindesten fünf Metern. Beides konnte der Heinz aus der Autowerkstatt besorgen“, weiß Meisen noch.

Die Idee zum Opa-Blog hatte ein Enkelkind

Nachdem die Idee „erfreulicherweise Realität“ geworden sei, worüber „uns ein lauter Schrei des nachts versichert hatte“, habe „die Führung“ erfolglos versucht herauszubekommen, wer für „das Attentat“ verantwortlich war. Als Vorwand dafür sei damals eine Versammlung anberaumt worden. „Kompanie 5 und 6, ungefähr 150 Soldaten, wurden um 14 Uhr zur Unterrichtsstunde gerufen mit dem vermeintlichem Thema: Ballistik der Vierlings-Geschosse“, berichtet Meisen akribisch.

„In Wahrheit wollten die rauskriegen, wer sich mit Elektrizität so gut genug auskennt, um die Regenrinne unter Strom zu setzen.“ Na ja, „sachdienliche Hinweise zur Aufklärung des mysteriösen Sachverhaltes“ hätten die Vorgesetzten aber nicht bekommen, sagt der Hundertjährige und lächelt wieder. In seinem Internet-Blog auf der Plattform Wordpress hat die Geschichte unter der Überschrift „Der Feldwebel und das Ohmsche Gesetz“ ihren Platz gefunden hat.

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„Opa, erzähl doch mal“, hatten die Enkel ihn in den vergangenen Jahren immer wieder gebeten. Vom Krieg beispielsweise, von der Urgroßoma, vom Bau des Familienhauses in der Voreifel oder von seiner Elektrofirma, die er noch dem Krieg gegründet und bis zur Rente erfolgreich geführt hat. Als Meisens Sohn Albert ihm im Februar 2016 ein Tablet kaufte und erklärte, hat er zuerst den Kopf geschüttelt. „Was soll ich denn mit so einem Ding? Ich hatte doch keine Ahnung, wie Internet und so ein Zeugs geht“, erzählt er. „Aber dann war es ein Segen.“

Peter Meisen: „Ich hatte keine Ahnung vom Internet“

Zunächst führte er tägliche Video-Telefonate mit seinen Angehörigen. Dann ließ er sich ein Textverarbeitungsprogramm erklären, schrieb tagsüber alles auf, was ihn nachts beschäftigte und manchmal sogar nicht schlafen ließ, und schickte seine Notizen den Kindern und Enkeln als E-Mail. Denn handschriftliches, und auch noch lesbar, das schafften die Finger schon länger nicht mehr. Aber einzelne Buchstaben ins Tablet tippen, „das ging, kein Problem“, erzählt Meisen.

„Wir waren absolut verblüfft. Die Mails, etwa seine Weihnachtsgeschichten, waren so schön. Und wir haben doch gar nicht geahnt, dass er so etwas kann“, ergänzt sein Sohn Albert. Wenn der Opa einen Blog hätte, könnte er sich die einzelnen Mails doch sparen, meinte einer der Enkel damals schließlich. „Großvater Peter“ war einverstanden und „sowas von bereit“, teilt seine Gedanken und Erinnerungen seitdem im Internet. Mit seiner Angehörigen, seinen noch lebenden Bekannten, den Nachbarn und mit jedem, der seine Seite anklicken möchte. Das sind nicht viele.

2019 beinahe gestorben

„Aber darum geht es ja auch nicht“, sagt Meisen. „Das Schreiben beschäftigt einen doch. Soll ich hier den ganzen Tag nur rumsitzen und mich bedauern, dass ich nicht mehr richtig laufen kann?“, fragt er. Und außerdem, ergänzt er leise nach einer kurzen Pause: „Ich möchte sagen, dass ich mir auch etwas von der Seele schreiben kann.“

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Der kleine Rosenkranz, den Peter Meisen bei der Kommunion bekommen hat.

Etwa davon, als er 2019 mit inneren Blutungen im Krankenhaus lag und glaubte, dass sei es jetzt gewesen. Als er seine Angehörigen deshalb schon an seinem Bett versammelt hatte. Er möchte mit klarem Verstand sterben, nicht narkotisiert auf dem OP-Tisch, hat er damals gesagt. „Und darum, weil ihr jetzt alle hier seid, ist es mir so schön, dass ich auf meine letzte Reise gehen kann.“ Doch die Blutungen wurden gestoppt.

100-jähriger Blogger: „Der Herrgott wollte mich noch nicht“

„Der Herrgott wollte mich noch nicht“, sagt Meisen. Als er seine Katze, die er auf den Namen Kater getauft hatte, einschläfern lassen musste, schilderte er im Blog, wie unendlich traurig er sei. Sicher, er habe schon schwierigere Zeiten in seinem Leben durchgemacht, schrieb er. „Aber jede Zeit und jeder Umstand hat andere Gefühle, und im Alter werden Abschiede, wie ich festgestellt habe, noch schmerzlicher.“

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Wenn Meisen von der Kindheit und einer Jugend im Nazi-Deutschland erzählt, werden seine Erinnerung besonders lebendig. Als die Mutter den Vierjährigen mit 50 Millionen Reichsmark zum Bäcker schickte, das weiß er noch genau. „Geh schnell, sonst kriegen wir nichts mehr dafür“, hat die Mutter gedrängt. Der Großvater, geschätzt im ganzen Ort, als er und der Besuch mit Porzellan-Pfeifen die Stube vollqualmten und einer ihn nach seinem Leben gefragt hatte. „Mach mal das Fenster auf“, habe der Opa geantwortet. Endlich Frischluft, dachte Meisen. Doch der Großvater sagte: „Mach das Fenster schnell wieder zu, das waren meine 81 Jahre.“

Peter Meisen: Mit Pferden und Anhänger die Eltern zurückgeholt

Es sei schon komisch, was einem so alles in Erinnerung bleibe, sagt Meisen. Die letzten Kriegstage, eingekesselt von den Russen. Wie es ihm nach der Gefangennahme gelang, sich vor dem Abtransport zu retten, indem er sich nachts in einen Graben warf und totstellte. Wie er die lange Zeit des Liegens dort im Dreck nur durchgestanden habe, weil er den Finger-Rosenkranz dabeihatte, den die Großeltern ihm 1932 zur Kommunion geschenkt hatten und der ihn bis heute begleitet. Auch darüber schreibt er in seinem Blog.

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Peter Meisen erzählt von seinem Leben in der Nazi-Zeit

Wieder zu Hause angekommen, überredete er damals einen befreundeten Fuhrunternehmer, ihm „für kurze Zeit“ zwei Pferde und einen kleinen Hänger zu leihen. Er wolle die evakuierten Eltern abholen, die „schon kurz hinter Düsseldorf“ untergekommen seien. „Na ja“, sagt Meisen. Und lächelt „Ich musste damals ein bisschen schwindeln.“ Denn die Eltern waren nicht in der Nähe von Düsseldorf, sondern weit weg in Paderborn.

Die „kurze“ Rückholaktion dauerte deshalb 18 Tage. „Inklusive der derben Beschimpfungen, mit denen der Fuhrunternehmer mich nach unserer Rückkehr empfangen hat“, sagt Meisen und schaut dem Reporter in die Augen: „Sie sehen, es gibt noch jede Menge Stoff für meinen Blog.“

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