Gerettet aus den TrümmernDas schwierige Weiterleben nach der Todesangst

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Ein beschädigtes Wohnhaus nach dem verheerenden Erdbeben im türkisch-syrischen Grenzgebiet. Die betroffenen Gebiete waren zunächst schwer zugänglich, mit dem Fortschreiten der Bergungsarbeiten steigen die Opferzahlen.

Ein beschädigtes Wohnhaus nach dem verheerenden Erdbeben im türkisch-syrischen Grenzgebiet. Die betroffenen Gebiete waren zunächst schwer zugänglich, mit dem Fortschreiten der Bergungsarbeiten steigen die Opferzahlen.

Tausende sind beim Erdbeben in der Türkei und in Syrien gestorben. Ein Überlebender berichtet von seiner Angst, als er unter den Trümmern lag – neben seiner toten Mutter.

Ismail Göceks linkes Handgelenk ist gebrochen, seine beiden Beine ebenso. Ob sein linkes Bein überhaupt noch gerettet werden kann, steht in den Sternen. Der 40-Jährige liegt in einem Krankenhaus in der Provinzhauptstadt Gaziantep, er sagt, die Ärzte hätten offengelassen, ob sie unterhalb des Knies amputieren müssten.

Göcek hat Glück im Unglück gehabt, auch wenn sein Gemütszustand das nicht widerspiegelt. Er ist beim Erdbeben in seinem Haus im südosttürkischen Dorf Sahintepe verschüttet worden, hat aber überlebt. Anders als seine Mutter und seine Schwester, die neben ihm von Trümmern erschlagen wurden.

Im Bett neben dem von Göcek liegt ein verletztes Mädchen, die Zwölfjährige schläft. Das Krankenhaus sei voller Erdbebenopfer, sagt eine Pflegerin. Auf der Intensivstation sei die Lage immer noch schwierig, auf den anderen Stationen habe sie sich entspannt. Strom und Wasser gebe es wieder, Gas allerdings noch nicht. Göcek sagt, im Zimmer werde es nachts sehr kalt, weil die Heizung nicht funktioniere. „In den ersten zwei, drei Tagen gab es auch kein Essen. Meine Verwandten haben mir diese Sachen gebracht.“ Er zeigt auf einen Tisch, auf dem Kekse und Fruchtsaft stehen.

Als am Montag um 4.17 Uhr morgens die Erde bebte, sei er aus dem Bett gefallen, erinnert sich Göcek. Bei Kollaps des Hauses sei eine Wand auf seinen Unterkörper gestürzt. „Ich konnte meine Beine nicht mehr bewegen. Ich hatte Todesangst. Ich habe nach Hilfe geschrien.“ Nach kurzer Zeit habe er dann Geräusche gehört. Sein Bruder, der auf der anderen Seite der Dorfstraße wohnt, und dessen zehn Jahre alter Sohn hätten nach ihm gerufen. „Das war natürlich eine große Erleichterung“, sagt Göcek.

Hilfe kam erst nach vier bis fünf Stunden

Die schweren Betonbrocken über ihm hätten die beiden aber nicht bewegen können. „Es war kalt, und sonst kam keine Hilfe“, sagt Göcek. „Ich hatte die Befürchtung, dass ich in den Trümmern erfrieren würde.“ Sein Bruder und sein Neffe hätten mit bloßen Händen gegraben. Nach rund zwei Stunden seien andere Dorfbewohner zur Hilfe gekommen, dann habe jemand einen Bagger organisiert.

Vier bis fünf Stunden habe es gedauert, bis er befreit worden sei. Er sei dann von Verwandten ins Krankenhaus gebracht worden. Seine Mutter und seine Schwester seien später tot aus den Trümmern geborgen worden. Weil die Leichenhalle voll gewesen sei, seien die beiden Toten ins Haus des Bruders gebracht worden.

Die Fahrt von der Provinzhauptstadt Gaziantep in das kleine Kurdendorf Sahintepe dauert eine gute Stunde. Gaziantep beginnt, sich aus der Schockstarre des Bebens zu lösen, wenn auch extrem zögerlich. Vereinzelt öffnen Lebensmittelgeschäfte wieder ihre Türen, manche Tankstellen verkaufen wieder Treibstoff. Der Weg nach Sahintepe führt durch die mehrheitlich alevitische-kurdische Stadt Pazarcik, in der ganze Straßenzüge durch Trümmerhaufen von eingestürzten Wohnblöcken unpassierbar sind.

Betroffene beklagen mangelnde Unterstützung der Regierung

Ein alter Mann auf einer der blockierten Straßen klagt über mangelnde Unterstützung der Regierung: „Wir haben keine Hilfe bekommen.“ Der Schutthaufen, der einmal das Haus von Ismail Göcek war, findet sich gleich rechts am Ortseingang von Sahintepe. Sein Bruder Hüseyin Gökcek, der Ismail gerettet hat, hat vor einer halben Stunde die Mutter und die Schwester beerdigt. Jetzt klettert der 50-Jährige in die Ruine und zeigt, wo er seinen Bruder gefunden hat. Gleich daneben ist eine Wolldecke.

Unter ihr habe die Mutter gelegen, als das Haus zusammenbrach, erklärt Hüseyin Göcek. „Hier ist noch ihr Blut dran.“ Auf seinem Handy zeigt er ein letztes Foto, das er bei der Bergung von seiner toten Mutter aufgenommen hat. Ob er auch ein Bild von seiner Schwester habe? Deren Gesicht sei durch Verletzungen so entstellt gewesen, dass er darauf verzichtet habe, antwortet er.

Hüseyin Göcek sagt, keines der rund 150 Häuser im Dorf sei unbeschädigt geblieben. „Niemand schläft mehr drinnen.“ Im Vorhof seines Hauses hat er eine Behelfsunterkunft mit blauen Planen errichtet, in der die Familie jetzt unterkommt. Tagsüber ist es sonnig, die Kinder spielen im Hof. Nachts fallen die Temperaturen unter null Grad. Strom, Wasser und Gas gibt es seit dem Beben nicht mehr.

Sahintepe ist ein alevitisch-kurdisches Dorf. In der Provinz Kahramanmaras, in der Sahintepe liegt, kam es 1978 zu einem Pogrom gegen Aleviten, die rund 20 Prozent der Muslime in der Türkei stellen. Kurden wiederum sind die größte ethnische Minderheit der Türkei. Aleviten und Kurden (und dementsprechend auch alevitische Kurden) sind lange Zeit benachteiligt gewesen. Viele beklagen, dass sich daran bis heute nicht wirklich etwas geändert habe.

Die untere Etage wurde förmlich zermalmt

Der 49-jährige Ali, dessen Nachname ungenannt bleiben soll, hat beim Erdbeben in Sahintepe zwei Nichten verloren, sie waren nach seinen Worten sechs und neun Jahre alt. Seine Schwester und ein drittes Mädchen hätten im Obergeschoss des zweistöckigen Hauses geschlafen, die beiden anderen Kinder im Erdgeschoss, sagt er. Die untere Etage wurde förmlich zermalmt, als die Erde bebte, weswegen das Haus auf den ersten Blick aussieht, als wäre es seit jeher eingeschossig gewesen.

Ali kritisiert, die Bewohner von Sahintepe und der umliegenden kurdisch-alevitischen Dörfer hätten die Verschütteten alleine geborgen und selbst die Bagger privat organisiert. Rettungskräfte der Regierung seien nicht aufgetaucht. Staatliche Hilfslieferungen habe es bis Donnerstag keine gegeben. Was es mit den Lebensmitteln, der Kleidung und den Decken auf sich habe, die im Dorf verteilt werden? Sie stammten aus Hilfslieferungen von anderen kurdischen Gemeinde, betont der 49-Jährige – nicht aber von der Regierung.

Das bestätigt auch Ortsvorsteher Selman Keklik. „Vom Staat haben wir nichts bekommen“, sagt er. „Das ist alles von anderen Bürgern.“ Keklik sieht dahinter keine böse Absicht – er glaubt, dass die Regierung damit ausgelastet sei, Menschen aus den Trümmern zu bergen, und erst danach Hilfe schicken könne.

Ali will das Argument nicht gelten lassen. „Schauen Sie, dort hinten auf dem Hügel ist ein türkisches Dorf“, sagt er außerhalb der Hörweite des Ortsvorstehers. „Dahin hat die Polizei Hilfslieferungen geschickt. Aber nicht zu uns.“ Ali kritisiert: „Der Staat unterstützt keine Aleviten. Es ist nicht neu, dass wir diskriminiert werden.“

Ali lässt auch kein gutes Haar an Präsident Recep Tayyip Erdogan, der sich bei der Wahl am 14. Mai im Amt bestätigen lassen möchte. Bei einer ehrlichen Wahl gehe er nicht davon aus, dass Erdogan tatsächlich gewinnen würde, sagt der 50-Jährige. Er sei sich aber gar nicht so sicher, ob der Präsident die Abstimmung angesichts des Erdbebens überhaupt wie geplant stattfinden lassen werde.

Recep Tayyip Erdogan (2.v.r), Präsident der Türkei, besucht das von einem Erdbeben zerstörte Stadtzentrum von Kahramanmaras.

Recep Tayyip Erdogan (2.v.r), Präsident der Türkei, besucht das von einem Erdbeben zerstörte Stadtzentrum von Kahramanmaras.

In der Türkei wird bereits spekuliert, ob Erdogan die Wahl verschieben lassen könnte. Erdogan besucht am Donnerstag eine Zeltstadt für Erdbebenopfer in Gaziantep, die dort im botanischen Garten errichtet worden ist. Hunderte Polizisten sichern die Visite ab, zahlreiche Schaulustige haben sich versammelt. Der Präsident warnt bei seinem Besuch davor, die Naturkatastrophe für politische Zwecke zu missbrauchen.

Danach steigt er in seine schwarze Mercedes-Limousine, auf deren Lack sich weißer Staub gesammelt hat, und fährt davon. Der Staub stammt von der anderen Seite der abgesperrten Straße: Dort tragen Bagger Schutt aus einem Trümmerberg ab, den ein zusammengestürztes Wohnhaus hinterlassen hat.

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