Gedicht über „Alarmglocke“ geht viralLibyscher Dichter warnte vor Flut – und wird von Wassermassen in den Tod gerissen

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Ganze Stadtviertel der Hafenstadt Derna in Libyen sind bei den Überschwemmungen verwüstet worden. Der Bürgermeister rechnet mit bis zu 20.000 Toten

Ganze Stadtviertel der Hafenstadt Derna in Libyen sind bei den Überschwemmungen verwüstet worden. Der Bürgermeister rechnet mit bis zu 20.000 Toten.

Mustafa al-Trabelsi warnte die Behörden – nun ist der Dichter tot. „Lasst uns zusammenstehen, bis wir ertrinken“, waren seine letzten Worte. 

Nach den verheerenden Überschwemmungen in Libyen findet ein Gedicht mit dem Titel „Der Regen“ in dem Land große Beachtung. Das Gedicht stammt von Mustafa al-Trabelsi, einem libyschen Dichter aus der von extremen Regenfällen und Dammbrüchen großflächig verwüsteten Hafenstadt Derna. Al-Trablesi kam bei der Überschwemmung der Stadt ums Leben.

Libyen: Gedicht „Der Regen“ findet große Beachtung – Autor stirbt in Flut

Noch kurz vor der Katastrophe hatte der Dichter an einem Treffen in einem Kulturhaus in Derna teilgenommen, bei dem es um die Gefahr einer Überschwemmung in der Stadt und den Zustand der nun gebrochenen Staudämme gegangen sei, berichtet der britische „Guardian“. Sein nun populäres Gedicht kann als Warnung verstanden werden, es lautet:

Der Regen
enthüllt die durchnässten Straßen,
den betrügerischen Auftragnehmer
und den gescheiterten Staat.
Er wäscht alles,
Vogelflügel
und Katzenfell.
Erinnert die Armen
an ihre zerbrechlichen Dächer
und zerlumpten Kleider.
Er weckt die Täler,
schüttelt ihren gähnenden Staub
und ihre trockenen Krusten ab.
Der Regen
ist ein Zeichen des Guten,
ein Versprechen auf Hilfe,
eine Alarmglocke.

„Die Szenen sind beängstigend“, hatte al-Trabelsi noch in der Nacht des Sturms auf seiner Facebook-Seite geschrieben. „Die Dinge können zu einer Katastrophe eskalieren – und wir stehen unter der Herrschaft eines korrupten Tyrannen“, führte er aus und rief seine Mitmenschen dazu auf, sich in Sicherheit zu bringen. „Möge Gott den Familien in unserem geliebten Land helfen“, fügte der Dichter an.

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Libyscher Dichter stirbt in Derna: „Lasst uns zusammenstehen, bis wir ertrinken“

Um 21.37 Uhr am Sonntagabend meldete sich al-Trablesi dann zum letzten Mal auf Facebook. „Wir haben in dieser Situation nur einander. Lasst uns zusammenstehen, bis wir ertrinken.“ Dann starb der Dichter in den Fluten.

Ein freiwilliger Helfer sitzt in den Trümmern der Stadt Derna. Mehr als 4.000 Leichen wurden in der Stadt bereits gefunden. Die Zahl könnte in den nächsten Tagen noch drastisch ansteigen.

Ein freiwilliger Helfer sitzt in den Trümmern der Stadt Derna. Mehr als 4.000 Leichen wurden in der Stadt bereits gefunden. Die Zahl könnte in den nächsten Tagen noch drastisch ansteigen.

Die „Alarmglocke“ aus seinem Gedicht wollten die Behörden in der stark betroffenen Stadt Derna zuvor offenbar nicht hören. Maßnahmen zur Sicherung der Staudämme wurden nicht ergriffen. Bei dem Unwetter brachen die Dämme dann, ganze Stadtviertel Dernas wurden daraufhin ins Meer gespült. Die Lage in der Hafenstadt bleibt auch Tage nach der Überschwemmung katastrophal. 

Libyen: Bürgermeister von Derna erwartet „18.000 bis 20.000“ Todesopfer

„Wir erwarten eine sehr hohe Zahl von Opfern“, sagte Bürgermeister Abdel-Moneim al-Gheithy dem arabischen Sender Al-Arabija. Ausgehend von den zerstörten Bezirken könnten es „18.000 bis 20.000 Tote sein“. Damit wäre fast ein Fünftel der Bewohner der Stadt, die vor der Katastrophe 100.000 Einwohner zählte, bei den Überschwemmungen getötet worden.

Nach Einschätzung des Nothilfebüros der Vereinten Nationen benötigen jedoch auch abseits von Derna Hunderttausende von Menschen dringende Hilfe. In einem Dringlichkeitsappell rief das UN-Büro für humanitäre Hilfe zu Soforthilfen in Höhe von 71,4 Millionen Dollar (rund 67 Millionen Euro) auf, „um den dringenden Bedarf von 250.000 am stärksten betroffenen Libyern zu decken“. Die Lage im Nordosten des Landes sei kritisch.

Libyen: Hunderttausende brauchen nach Sturm „Daniel“ dringend Hilfe

Fast 900.000 Menschen in fünf Provinzen des Bürgerkriegslandes lebten in Gebieten, die vom Sturm „Daniel“ und den dadurch ausgelösten Sturzfluten „direkt und in unterschiedlichem Ausmaß“ betroffen seien. „Daniel“ hatte das nordafrikanische Land am Sonntag erfasst.

Khaled Mattawa – ein libyscher Schriftsteller, der das nun populär gewordene Gedicht übersetzt hat – erklärte dem „Guardian“ unterdessen, die Anteilnahme im Land sei „herzzerreißend“. Der Schriftsteller übte jedoch auch Kritik.

„Ich möchte ausrufen: ‚Deshalb brauchen wir die Zivilgesellschaft und die Pressefreiheit‘, und ich sage mir, ich solle das nicht politisieren“, zitierte die englische Zeitung Mattawa. „Aber war es nicht die Politik, die dazu geführt hat, dass die Vernachlässigung und die Korruption sich wie eine Brandwunde über den gesamten Staatskörper ausgebreitet hat?“

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