Lange Haftstrafen im Missbrauchsfall Münster„Im Grunde dürfen Sie nie wieder raus“

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MünsterMissbrauch

Der Hauptangeklagte Adrian V. vor der Urteilsverkündung vor Gericht

  • Am Dienstag ist am Landgericht Münster eines der größten Verfahren im Zusammenhang mit sexueller Gewalt gegen Kinder in der bundesdeutschen Rechtsgeschichte zu Ende gegangen.
  • Adrian V., 28, IT-Techniker aus Münster, wurde wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern, Vergewaltigung sowie gefährlicher Körperverletzung zu 14 Jahren Haft verurteilt.
  • Im Zentrum der Anklage: Ein ganzes Wochenende haben die Angeklagten gemeinsam einen Zehn- und einen Fünfjährigen vergewaltigt.

Münster – Kurz vor dem Ende der Urteilsbegründung wendet sich der Richter an den Hauptangeklagten.  „Es ist unfassbar, was hier passiert ist“, entfährt es ihm. So viele Menschen habe Adrian V. in seinem Sumpf gezogen, so viele Existenzen vernichtet. Und jetzt sitze der Angeklagte hier und grinse.  V. werde sich in seinem Leben nicht mehr ändern, seine tief verankerte Lust an der sexuellen Gewalt gegen Kinder nicht mehr verlieren. „Im Grunde dürfen Sie nie wieder raus.“

Am Dienstagvormittag ist am Landgericht Münster eines der größten Verfahren im Zusammenhang mit sexueller Gewalt gegen Kinder in der bundesdeutschen Rechtsgeschichte zu Ende gegangen. Adrian V., 28, IT-Techniker aus Münster, wurde wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern, Vergewaltigung sowie gefährlicher Körperverletzung zu 14 Jahren Haft verurteilt. Die drei Mittäter erhielten ebenfalls hohe Gefängnisstrafen. Tobias S., 30, Handwerker, zwölf Jahre. Enrico L., 42, Pflegedienstleiter, elf Jahre, sechs Monate. Marco S., 35, EDV-Experte, zehn Jahre.

Für alle vier verhängte das Gericht die anschließende Sicherungsverwahrung. Wegen ihres tief verwurzelten Hangs, Kinder sexuell zu missbrauchen, seien sie auch in Zukunft eine Gefahr für die Allgemeinheit.

„Grenzen des Vorstellbaren“ gesprengt

Was in den vergangenen 53 Verhandlungstagen seit Prozessbeginn im November 2020 in Saal 23 stattgefunden haben muss, lässt sich nur erahnen. Die Öffentlichkeit war aufgrund des Opferschutzes die meiste Zeit ausgeschlossen. Das Gericht spricht von Darstellungen, die die „Grenzen des Vorstellbaren“ gesprengt hätten. Nur zwei der Angeklagten hatten die Taten eingeräumt, allerdings auch nur wegen der erdrückenden Beweislast. Haupttäter Adrian V. und Marco S. dagegen schwiegen.

Ein Polizeibeamter vor der Gartenlaube, wo der vermutliche Haupttäter von Münster Teile seiner Server-Anlage unterbrachte.

Ein Polizeibeamter vor der Gartenlaube, wo der vermutliche Haupttäter von Münster Teile seiner Server-Anlage unterbrachte.

V. wurde wegen 29 Fällen verurteilt, das aber sei wohl nur „die Spitze des Eisbergs“, betonte der Vorsitzende. Adrian V. hatte sein Opfer im familiären Umfeld gefunden. Den damals zehn Jahre alten Sohn seiner Lebensgefährtin. Er quälte, missbrauchte und vergewaltigte den Jungen zuhause und in der Gartenlaube seiner Mutter, die ebenfalls angeklagt war.

Kita-Erzieherin muss fünf Jahre in Haft

Carina V., Kita-Erzieherin, stellte ihm das Backsteingebäude zur Verfügung, und laut Auswertungen von Handychats und Zeugenaussagen wusste sie genau, was darin geschah. Das Gericht verurteilte sie zu fünf Jahren Gefängnis.

V. fuhr mit dem Kind durch ganz Deutschland, führte es auch anderen Männern zu, die es ebenfalls missbrauchten. V. verbreitete Fotos und Videos seiner Taten über verschlüsselte Handys und Notebooks im Netz. Und er lud andere Männer in die Laube ein. Kennengelernt hatte er sie über diverse Messengerdienste. In manchen Fällen habe man sich anfangs über Kryptowährungen ausgetauscht, irgendwann wurde klar, um was es eigentlich geht: Sexuelle Gewalt. Für den Austausch von Phantasien und Bildern gründeten die Männer eigene Chats, einer hieß „Boyslover“.

Kinder wurden das ganze Wochenende lang vergewaltigt

Im Zentrum der Anklage stand ein Wochenende im April 2020. V. hatte damals die drei später Mitangeklagten in die Laube einer Kleingartenanlage in Münster eingeladen. V. hatte seinen Ziehsohn dabei, Tobias S. brachte seinen leiblichen Sohn mit, fünf Jahre alt. Zu viert vergewaltigten sie die Kinder, gleichzeitig, nacheinander, mit Gegenständen, immer wieder, ein ganzes Wochenende lang. Freitag bis Sonntag, montags dann wieder zur Arbeit. Mit einer festinstallierten Videokamera in der Laube hat V. alles aufgezeichnet.

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Das Urteil fällte das Landgericht Münster

Der Richter nennt das Geschehen eine „pädosexuelle Gruppentat“. Es ist die dabei entstandene Gruppendynamik, die das Gericht sogar zu Gunsten der Angeklagten strafmildernd berücksichtigt.

Herzstillstand billigend in Kauf genommen

Gleichwohl betont der Vorsitzende, wie „unbarmherzig“ die Männer den Missbrauch durchsetzten. Sie sedierten die Kinder mit Gamma-Butyrolacton (GBL), einer Chemikalie, die normalerweise zur Entfernung von Nagellack und Graffiti verwendet wird und nahmen dabei einen Atem- oder Herzstillstand billigend in Kauf. Das GBL gehörte laut Gericht zur Standardausstattung, auch bei späteren Taten wurden die Kinder in einen Zustand der völligen Wehrlosigkeit versetzt.

Bei den Männern in der Laube herrschte offenbar eine heitere Stimmung. Es wurde gelacht und gescherzt. „Mach‘ ruhig, ich hab‘ den jeden Tag“, soll V. seine Kumpel aufgefordert haben. Ein anderer sagte: „Das Buffet ist eröffnet“ oder „Du brauchst wegen mir keine Hemmungen haben, mach‘, was Du willst!“

Gespräche über Dildos beim gemeinsamen Frühstück

Zwischen dem stundenlang andauernden Missbrauch legten sie ab und an Pausen ein. Zum Schlafen oder für das gemeinsame Frühstück mit V.s Mutter Carina, die dafür eigens in die Laube kam. Man unterhielt sich offen über Dildos und die angebliche afghanische Tradition der Kindertänzer, die nachts von einem Mann in die Wüste geführt und dort von ihm „durchgepimpert“ würden.

Zwischendurch griff einer der Männer einem Jungen ganz beiläufig an die Genitalien.  „Skrupellos und ohne Scham“, wie der vorsitzende Richter es beschrieb. Hier sei deutlich geworden, wie der „traurige Alltag dieser Kinder“ ausgesehen haben muss.

Kinderpornografie mit Echtheitszertifikat

Mit Beginn des ersten Lockdowns und des Distanzunterrichts habe bei V. und den anderen Angeklagten auch die „Aktivitätsdichte“ zugenommen. Bei den späteren Hausdurchsuchungen fanden die Ermittler bei V. eine schier unglaubliche Menge an Datenmaterial.

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Wochenlang arbeitete eine Kriminalbeamtin aus Coesfeld daran, V.s verschlüsselten Rechner zu knacken. Auf seinen Geräten fanden die Beamten unter anderem 24 feinsäuberlich geordnete und durchnummerierte Fotosets. Manche dienten dem Zweck, im Netz zu beweisen, dass V. nicht etwa ein verdeckter Ermittler ist. Die Bilder hatte er mit einem „Proof“ versehen, einer Art Echtheitszertifikat. Zu lesen waren auf dem Aufnahmen Sätze wie „Bauer sucht Kind“, „Kinderficker“ oder einfach: „Alles echt“. 

Kinderpornografie-Konsum stieg im Lockdown um ein Drittel

Wie hart der Lockdown Kinder getroffen hat, die in einem Missbrauchsumfeld leben müssen, zeigt die Kriminalstatistik. Laut Europol ist im ersten Corona-Lockdown in Europa der Konsum von Missbrauchsabbildungen um rund 30 Prozent gestiegen, auch das Livestreaming von sexualisierter Gewalt via Webcam aus den Kinderzimmern hat sich demnach massiv ausgebreitet.

Die britische Internet Watch Foundation berichtet für 2020, dass 33 Prozent der kinderpornografischen Websites Vergewaltigungen oder sexualisierte Folter von Kindern zeigen. 55 Prozent der Kinder seien unter zehn Jahre, zwei Prozent jünger als zwei Jahre alt. Statistisch gesehen sitzen in jeder deutschen Schulklasse ein bis zwei Kinder, die schon einmal sexuelle Gewalt erleben mussten.

Johannes-Wilhelm Rörig, Unabhängiger Beauftragter für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, forderte erst Ende Mai eine Aufstockung des Personals bei den Behörden. Ermittlungen dürften nicht daran scheitern, dass Durchsuchungsbeschlüsse nicht vollstreckt und Datenträger nicht ausgewertet werden oder tausende Akten bundesweit auf Halde liegen, weil es keine Kapazitäten für ihre Bearbeitung gebe. „Hier ist ein Kipppunkt erreicht – wir müssen verhindern, dass das System kollabiert!“

20.000 Seiten Gerichtsakten

In mehr als 50 Verhandlungstagen öffnete das Münsteraner Landgericht Stück für Stück das Tor zu einer unvorstellbaren Welt, festgehalten auf 20.000 Seiten Gerichtsakten. Mehr als 70 Zeugen sagten aus, sieben Gutachter.

Es ist eine Welt wie sie zuvor durch die Taten auf einem Campingplatz in Lügde schon bekannt geworden waren, oder auch im Komplex Bergisch Gladbach. Drei Tatkomplexe, allesamt entdeckt in einem Zeitraum von nur anderthalb Jahren. Orte als Chiffre undenkbarer Grausamkeiten.

Bislang 50 Tatverdächtige identifiziert

Wie schon im Komplex Bergisch Gladbach wurde auch Münster für die Ermittler zum Ausgangspunkt eines Netzwerkes, das über die Monate immer größer, immer verzweigter, immer undurchsichtiger wurde. Immer mehr Männer gerieten bei der Auswertung des Beweismaterials ins Visier. Bislang konnte die „Ermittlungskommission Rose“ bundesweit mehr als 50 Tatverdächtige identifizieren, 30 davon sitzen in U-Haft, sieben Männer wurden bereits verurteilt.

Vor vier Tagen erst wurde in Regensburg ein 33 Jahre alter Mann festgenommen. Jeder Tatverdächtige bringt neues Datenmaterial, etwa 1.400 Handys, Computer und Festplatten wurden beschlagnahmt. 1,2 Millionen Gigabyte, die gesichtet werden, Filme, die Sequenz für Sequenz angeschaut werden müssen, um körperliche Merkmale, prägnante Hintergründe und Einrichtungsgegenstände zu erkennen. Mehr als 30 Kinder konnten bislang gerettet werden.

Therapeuten bescheinigten V. vorbildliches Verhalten

Wie so oft in solchen Fällen hatte auch Adrian V. eine einschlägige Vorgeschichte. In den Jahren 2016 und 2017 war er bereits in zwei Verfahren zu Bewährungsstrafen wegen der Verbreitung von kinderpornografischem Material verurteilt worden. Teil seiner Auflagen war eine Therapie, um zu lernen, seine pädophilen Neigungen zu beherrschen. Die Therapeuten bescheinigten ihm vorbildliches Verhalten.

Was sie nicht wussten: In den einschlägigen Foren war V. längst wieder aktiv.

Eine drängende Frage bleibt: Warum ließ V.s Lebensgefährtin ihr eigenes Kind immer und immer wieder mit einem Mann allein, dessen Neigungen ihr doch offenbar bekannt waren? Das hatte auch die Ermittler stutzig gemacht. Die Frau wurde im Februar festgenommen, im Mai hat die Staatsanwaltschaft Anklage gegen die 31-Jährige erhoben. Die Ermittler gehen davon aus, dass sie spätestens seit Oktober 2018 von dem Missbrauch an ihrem Sohn gewusst hat. Demnach hatte Adrian V. ihr in einem gemeinsamen Urlaub gestanden, was er mit dem Jungen anstellte.

Mutter duldete den Missbrauch ihres eigenen Sohnes

Die Beziehung hat sie weitergeführt, ließ ihren Freund allein mit dem Kind reisen, von einem Mann zum anderen. Anderthalb Jahre, bis zur Festnahme von V. im Mai 2020, soll sie den Missbrauch, die Vergewaltigungen geduldet und gedeckt haben. Meistens hätten die Taten in der gemeinsamen Wohnung stattgefunden, meistens sei sie auch nicht dabei gewesen. Fünf Mal aber, so steht es in der Anklageschrift, soll sie den Missbrauch mitbekommen, aber nicht verhindert haben.

Der Prozess gegen sie soll womöglich im August starten.

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