Neue Studie aus KölnSo stark haben Jugendliche wirklich unter Corona gelitten

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Einsamkeit, Langeweile, Zukunftsängste, selbstverletzendes Verhalten – während der Corona-Krise leiden viele Kinder und Jugendliche zusätzlich unter Kontaktsperren sowie Konflikten mit Eltern und Freunden.

Köln – Zwei Jahre Jugend im Treibhaus – so beschreibt eine Studie des Kölner „rheingold“-Instituts das Leben der 15- bis 19-Jährigen in der Pandemie. Die Angehörigen dieser Altersgruppe hätten „unter kontrollierten Bedingungen sehr schnell groß werden“ müssen, sagt Studienleiterin Birgit Langebartels. Im Bild vom Treibhaus ist sowohl das Leben „unter Glas“ mit allerlei Begrenzungen und eingeschränkten Handlungsmöglichkeiten enthalten als auch die Erfahrung von Entwicklungsschüben unter Laborbedingungen.

Die Kombination qualitativer, tiefenpsychologisch fundierter Interviews mit einer repräsentativen Online-Befragung im Auftrag des Magazins „Stern“ ergab ein ausgesprochen differenziertes Bild zum seelischen Befinden der jungen Generation unter Corona-Bedingungen: Von einer „intensivierten Zeit“ spricht die Studie, in der die Jugendlichen „Hochs und Tiefs in nicht gekanntem Ausmaß mit außergewöhnlichen Gefühlsschwankungen“ erlebt hätten.

Ausfall von Reifungsschritten

„Alle haben unter der Krise gelitten, an keinem ist sie spurlos vorübergegangen“, sagt die Diplompsychologin Langebartels, die bei „rheingold“ den Bereich „Kids & Family Research“ leitet. „Corona bedeutete weit mehr als nur den Verzicht auf Partys, sondern den Ausfall von Reifungsschritten und Erlebniswelten, die typischerweise zur notwendigen Entwicklungsarbeit des Erwachsenwerdens gehören“.

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Fast die Hälfte der Jugendlichen gaben an, Schwierigkeiten zu haben, auf andere zuzugehen.

So gab eine deutliche Mehrheit der Befragten an, sie hätten sich oft einsam gefühlt. Die sozialen Kontakte hätten abgenommen, Freundschaften seien zerbrochen. Dafür seien die verbleibenden Beziehungen enger geworden.

Knapp die Hälfte der Jugendlichen ist nach eigener Wahrnehmung unsicherer geworden. Es falle ihnen schwerer, auf Menschen zuzugehen. Verbreitet ist auch das Gefühl fehlender emotionaler Unterstützung – sei es in der Familie oder durch die Gesellschaft insgesamt.

80 Prozent fühlen sich von der Politik weder gehört noch gesehen

Ein Drittel der Befragten fühlt sich unsichtbar, nicht beachtet. Über die politisch Verantwortlichen sagen 80 Prozent der Jugendlichen, sie hätten sich von ihnen weder gehört noch gesehen gefühlt. Dass sie die harten Einschränkungen ihres Alltags in der Schule oder Ausbildung wie auch in der Freizeit weithin mitgetragen hätten, sei nicht wertgeschätzt worden. Vielmehr seien sie als erste in Quarantäne, aber als letzte zur Impfung geschickt worden - „und keiner hat Danke gesagt“, so brachte es ein Jugendlicher im Interview auf den Punkt.

Eine massive Erschütterung des Vertrauens attestiert die Studie besonders dem System Schule. Die Jugendlichen hätten das Gefühl gehabt, sie würden im Stich gelassen und arbeiteten quasi „ins Nichts“. Mit den ständigen Änderungen der Corona-Regeln an den Schulen habe die Politik auch den Lehrkräften die Arbeit erschwert, sagt Langebartels. „Oftmals sind auch sie im Bemühen, ihre Schülerinnen und Schüler adäquat zu betreuen, am System gescheitert.“ Laut Studie sehen nur neun Prozent der Jugendlichen in Lehrerinnen und Lehrern noch Vorbilder. Stattdessen halten sich 23 Prozent an Prominente, 17 Prozent an fiktive Film- oder Seriencharaktere.

Einige Jugendliche legten Turbo-Wachstum hin

Auf der Haben-Seite verzeichnet die Studie eine Reihe positiver Effekte aus der Zeit der Pandemie. „Teilweise haben die Jugendlichen ein regelrechtes Turbo-Wachstum hingelegt“, sagt Birgit Langebartels und nennt als Beispiele das digitale Lernen oder den Erwerb neuer Fertigkeiten mit Hilfe von Online-Tutorials. „Zu lernen, wie sie am besten lernen, ist für die Jugendlichen einer der vielleicht wichtigsten Ergebnisse“, so Langebartels. Immerhin 60 Prozent sagen, sie hätten in der Pandemie für ihr künftiges Leben dazugelernt. Sogar 70 Prozent berichten von dem Gefühl, stärker geworden zu sein.

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Zwei von drei Jugendlichen haben sich in der Pandemie oft einsam gefühlt.

Die Studie unterscheidet sechs Typen für den Umgang Jugendlicher mit der Krise:

1. Die Nesthocker Sie haben sich in der Corona-Zeit in die sichere Welt der Familie und ihres engsten Freundeskreises zurückgezogen. Beunruhigenden, ja bedrohlichen Einflüssen wie Schulkonflikten oder Mobbing waren sie mit einem Mal nicht mehr ausgesetzt, was die „Nesthocker“ als durchaus angenehm empfanden. Eine umso größere Überwindung stellt es für sie dar, das heimelige Nest jetzt wieder verlassen zu müssen. Sie wirken ängstlich und konfliktscheuer als zuvor.

2. Die haltlosen Eskapisten

Sie sind in der Corona-Zeit fast völlig in den virtuellen Parallelwelten des Internet und der Streaming-Dienste verschwunden. Teils stimuliert durch Drogen, kam ihnen in ihrem Alltag jede Struktur abhanden. Dem Online-Unterricht haben sie sich mehr oder weniger komplett entzogen und wurden dadurch zusätzlich abgehängt. Auch diese Gruppe hat große Schwierigkeiten mit der Rückkehr ins „wirkliche Leben“.

3. Die disziplinierten Superhelden

Sie haben sich mit einem hohen Maß an Effizienz in ihrer kleinen, feinen eigenen Welt eingerichtet. Auf die Frage, worauf in einer Welt der Krisen eigentlich noch Verlass sei, haben sie eine klare Antwort gefunden: „Verlass ist im Grunde nur auf mich selbst.“ In diesem Geist haben sie sich ihr Sport-Pensum aufgegeben, ihre Ernährung optimiert oder sich neue Skills angeeignet. Entgleisungen oder Ausflüchte sind für sie tabu.

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Knapp zwei Drittel geben aber auch an, in der Pandemie Neues für die Zukunft gelernt zu haben.

4. Die subversiven Aktivisten

In der Krise haben sie versucht, sich eine kritische Grundeinstellung zu bewahren. Anstelle eines offenen Aufbegehrens gegen die Corona-Regeln haben sie diese punktuell unterlaufen und damit eine Rebellion im Kleinen fortgeführt. Laut Studie gab es keine statistisch fassbare Gruppe überzeugter Corona-Leugner. Vielmehr gerieten Jugendliche mit einer Tendenz zur Regelbefolgung eher in die Zwickmühle, wenn die eigenen Eltern sich dem geltenden Reglement verweigerten oder die Gefahren durch Corona in Abrede stellten.

5. Die clever-produktiven Gestalter

Sie nutzten „Schlupflöcher“ im Corona-Regime für ihre persönlichen Freiräume. Statt dem Online-Unterricht der Schule zu folgen, gingen sie eigenen Interessen nach und wurden auf anderen Feldern kreativ: beim Aufbau eines Online-Business, mit corona-kompatiblen Sportarten, Hobbys oder mit handwerklichen Aktivitäten im „DIY“-Trend (Do it yourself). In solchen schöpferischen Prozessen erfuhren die clever-produktiven Gestalter sich als selbstwirksam im Kleinen.

6. Die asketischen Einsiedler mit spirituellem Selbstbezug

Diese Gruppe ist dezidiert werte-orientiert und auf der Suche nach Halt im Leben jenseits von Konsum, Kommerz und den Reizen der materiellen Welt. Für Jugendliche aus dieser Gruppe kamen Religion und Glaube in den Blick – als Wieder- oder als Neuentdeckung. Die Corona-Zeit erlaubte es ihnen, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen: Der von außen auferlegte Verzicht wurde für sie zu einem eigenen Wert, gab inneren Halt und Struktur. Religiöse Praxis bedeutete unter Corona-Bedingungen zudem eine erlaubte Ausflucht, eine spirituelle Welterweiterung .

Generation geht desillusioniert aus der Krise hervor

Aus der Pandemie geht die junge Generation ein Stück desillusioniert hervor. Vor allem durch die „Fridays for Future“-Bewegung hatte sie sich selbst als einflussreich und wirkmächtig erlebt. Corona bedeutete auch in dieser Hinsicht eine massive Verlusterfahrung. Verstärkt durch den Ukraine-Krieg, finden Jugendliche sich in einer Welt der permanenten Krise vor. In ihr fällt es schwer, sich zu orientieren und Sicherheit zu gewinnen. Zugleich, so die Studie, habe Corona wie ein „Krisen-Seismograf“ bestehende soziale Probleme wie Chancen-Ungleichheit in aller Schärfe offengelegt.

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Eine verbreitete, latente Kriegsangst werde gerade jetzt, in einer Phase vergleichsweise geringer Corona-Auflagen, durch Feiern und eine Art nachgeholte Ausgelassenheit verdrängt, erläutert Langebartels. „Es ist ein Tanz auf dem Vulkan.“

Auch diejenigen Jugendlichen, die mit einiger Zielstrebigkeit „erwachsene“ Strategien zur Selbststärkung und Lebensbewältigung entwickelt hätten, bedürften jetzt einer Zeit der „Nachreifung“, so das Fazit der Studie. Zum Heranwachsen gehörten Freiräume, Reibungen, Unkontrolliertes. „Im Treibhauses fehlte es dafür an Experimentierfeldern.“

Den Erwachsenen – Eltern, Lehrkräften, Ausbildenden – rät Studienleiterin Langebartels zu Geduld und zum Verständnis für die Bedürfnisse der jungen Generation. Für besonders wichtig hält die Psychologin den individuellen Blick: Wo haben sich die Einzelnen in der Pandemie weiterentwickeln können? Wo hinken sie jetzt noch hinterher? Jugendliche bräuchten jetzt gezielt „Angebote, wieder in die Atmosphäre außerhalb des Treibhauses zu gelangen und neu ins Tun zu kommen“.

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