Zwei NRW-Polizistinnen wegen Feigheit verurteilt„Lauf, Pati, lauf!“

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Schusswechsel_in_Gevelsberg_gepixelt

Beamtin am Tatort in der Nacht vom 5. auf den 6. Mai 2020

Bevor Patricia B. über diese eine Nacht von damals aussagen will, wendet sie sich an das Gericht. Es sei alles andere als einfach jetzt hier zu sitzen. Als Polizistin auf der Anklagebank, das hätte sie im Leben nicht gedacht. Es werde ihr vermutlich auch nicht vollends gelingen, den Prozessbeteiligten nachvollziehbar zu machen, welche Todesängste sie damals habe durchstehen müssen, als fast zwei Dutzend Schüsse durch die Nacht zischten, alles in ihr auf Überleben schaltete und sie sich gleichsam in Panik vom Tatort entfernt habe. Und dann: „Ich bitte um Einfühlsamkeit.“

Etwa vier Stunden später werden sie und ihre mitangeklagte Kollegin Nadine A. das Gericht durchaus entsetzt verlassen. Denn die beiden Beamtinnen haben zwar Verständnis, aber auch eine deftige Strafe erfahren. Das Amtsgericht Schwelm folgte der Staatsanwaltschaft und verurteilte beide zu jeweils einem Jahr auf Bewährung wegen gemeinschaftlicher versuchter gefährlicher Körperverletzung durch Unterlassen im Amt.

Dramatische berufliche Konsequenzen für Hagener Beamtinnen

Ein sperriger Straftatbestand. Vereinfacht könnte man sagen: A. und B. wurden wegen Feigheit zur Rechenschaft gezogen. Die beruflichen Konsequenzen sind dramatisch. Sollte das Urteil rechtskräftig werden, würden beide ihren Beamtenstatus verlieren. Patricia B. und Nadine A., 37 und 32 Jahre alt, dürften keine Polizistinnen mehr sein. Wäre das Gericht unter zwölf Monaten geblieben, wäre es für beide wohl halb so schlimm gewesen.

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Im Kugelhagel ging die Scheibe des mutmaßlichen Täters zu Bruch.

Wegen des öffentlichen Interesses wurde der Prozess in den großen Schwurgerichtssaal des Hagener Landgerichts verlegt. Ganz genau kann es keiner sagen, aber, so vermuten es mehrere Verfahrensbeteiligte, die dramatischen Ereignisse in der Nacht vom 5. auf den 6. Mai sind womöglich einmalig in der bundesdeutschen Polizeigeschichte. Sichtlich angefasst berichten Nadine A. und Patricia B. vor Gericht wie sie damals kurz vor Mitternacht ihren Polizeibulli durch ein schlecht beleuchtetes Gevelsberger Gewerbegebiet lenkten, eine Kleinstadt im südlichen Ruhrgebiet.

Erst beim Blick in den Rückspiegel sollen sie stutzig geworden sein

Plötzlich entdecken sie zwei Kollegen am Straßenrand. Die beiden Männer haben ein Auto angehalten, Verkehrskontrolle. Einer der Kollegen hebt die Hand. Als Bitte um Unterstützung, wie der Kollege später aussagen wird. Zum Gruß, wie Nadine A. zunächst annimmt. Sie fahren weiter. Erst beim Blick in den Rückspiegel wollen sie bemerkt haben, dass da vielleicht doch etwas nicht stimmt.

Ein Datenabgleich hatte ergeben, dass der Kontrollierte per Haftbefehl gesucht wird. Vitalij K., ein polizeibekannter Dealer und Drogensüchtiger, gebürtig aus Kasachstan, deutscher Pass, kein Führerschein, zuletzt ohne festen Wohnsitz, im Auto 51 Gramm Heroin, in dieser Nacht bis zum Rand zugekokst. Die Polizisten verlangen einen Drogentest und lassen ihn in einen Becher urinieren. Als K. mitbekommt, dass man ihn sucht, kippt er den Becher ins Gesicht eines Beamten, wirft sich ins Auto, zieht eine Walther P99 unter dem Beifahrersitz hervor.

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Polizeiautos am Tatort, im Hintergrund der Wagen des Drogendealers

Nahezu zeitgleich, so schildern die beiden Polizistinnen, stellen sie ihren Mercedes Vito ab und steigen aus. Plötzlich seien Schüsse gefallen, B. geht hinter der Motorhaube in Deckung und zieht die Waffe. Ein Beamter geht getroffen zu Boden, seinen lauten Schrei werde er nie vergessen, sagt sein Kollege als Zeuge aus.

„Lauf, Pati! Lauf!“

Nadine A. kommt angerannt. „Lauf, Pati! Lauf!“, ruft sie B. zu. Statt zu helfen und das Feuer zu erwidern, ergreifen die beiden die Flucht, halten ein Auto an, das zufälligerweise vorbeifährt und brausen mit der wildfremden Fahrerin davon. Ihre Kollegen lassen sie im Kugelhagel zurück. Erst nach Aufforderung der Leitstelle lassen sie sich wieder an den Tatort zurückfahren.  

Das Gericht musste sich nun mit der Frage beschäftigen, wie weit Polizisten im Einsatz eigentlich gehen müssen, wenn das eigene Leben in Gefahr ist. Hätten A. und B. ihren Kollegen nicht helfen müssen, zumal für sie als Polizeibeamte dazu eine besondere Rechtspflicht besteht? Was ist zumutbar, wenn das eigene Leben in Gefahr ist, was töricht, was schlichtweg lebensmüde?

Frauen hätten zurückschießen müssen

Für die Staatsanwaltschaft lag die Sache klar. Die Frauen hätten aus ihrer Deckung heraus eingreifen und zurückschießen müssen, heißt es in der Anklage. Die Gefahr für das eigene Leben sei beherrschbar gewesen. Durch ihre Flucht aber hätten sie billigend in Kauf genommen, dass die Kollegen noch mehr Schüsse abkriegen.

Alles in ihr habe auf Überleben geschaltet, rechtfertigt sich B. vor Gericht. „So sehr ist das Polizistsein nicht automatisiert, dass man sich märtyrermäßig in die Kugeln schmeißt“, sagt sie. So etwas könne man gar nicht trainieren. A. schildert, sie habe Angst gehabt, in den Hinterkopf getroffen zu werden. Sie habe weder ihr Funkgerät noch ihr Mobiltelefon bei sich gehabt, um Unterstützung zu rufen. Ihre Stimme bricht. A. muss kurz innehalten.

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Das Auto anzuhalten, erschien den beiden angeblich als beste Möglichkeit, noch irgendwie hilfreich zu sein. A. ließ sich von der Fahrerin das Handy aushändigen und wählte die 110, die Nummer der eigenen Leitstelle hatte sie vergessen. Die Altenpflegerin fuhr die beiden auf Anweisung weg vom Tatort, bis in eine Sackgasse. „Ich habe einfach getan, was mir gesagt wurde“, sagt sie vor Gericht. Laut Funkprotokollen waren A. und B. auf der Fahrt völlig aufgelöst. Zumindest A. hat sich offenbar bereits Vorwürfe gemacht. „Ich muss zurück. Ich kann die beiden nicht stehen lassen“, soll sie gesagt haben.

„Sie sind einfach weggelaufen“

Offenbar waren zumindest anfangs auch die Kollegen irritiert vom Verhalten der beiden. „Wo seid ihr?“, habe der Kollege des Angeschossenen über Funk gerufen.   Seinem Dienstgruppenleiter sagte er laut Vernehmung unmittelbar nach den Geschehnissen: „Sie sind einfach weggelaufen.“

Vor Gericht aber wurde dann das Bemühen deutlich, die beiden Kolleginnen zu schützen. „Mir tut es sehr leid, dass sie hier sitzen“, sagt der damals angeschossene Beamte. Sie hätten an der Lage nichts ändern können, alles wäre genauso abgelaufen, beteuert er. Auch der Vorgesetzte macht den beiden keine Vorwürfe. Jeder andere von ihnen hätte vermutlich genauso gehandelt, sagt er. Aber es seien doch einschlägige Hinweise aus der Vergangenheit bekannt, nach denen beide nicht den besten Ruf genießen, sich nicht immer hundertprozentig einsetzen würden, sagt die Richterin. Diese Dinge seien unter den Kollegen geklärt worden, entgegnet der Dienstgruppenleiter trocken.

Verteidigung wirkt verdutzt

Nach der Beweisaufnahme einigen sich die Prozessbeteiligten auf ein Rechtsgespräch. Hinter verschlossenen Türen wird diskutiert, ob man den Prozess nicht einvernehmlich zu Ende bringen kann. Angeblich steht sogar eine Einstellung unter Auflagen im Raum. Doch dann kommt es ganz anders. Ein Jahr auf Bewährung und damit das Ende der Polizeikarriere. Die Verteidigung wirkt verdutzt.

A. und B. hätten in dieser Situation eingreifen müssen, um ihren unter Beschuss stehenden Kollegen zu helfen, sagt Richterin Walther. Ein Warnschuss in die Luft, ein Signal, sich bemerkbar machen. „Polizisten müssen reagieren.“

Beide Verteidiger wollen Rechtsmittel einlegen. „Das Urteil ist weit überzogen“, sagt Eckhard Wölke, Verteidiger von Patricia B. „Das werden wir so ganz sicher nicht akzeptieren.“

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