KommentarKrise der etablierten Parteien – Aiwanger, Wagenknecht und Co. wittern ihre Chance

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ARCHIV - 08.09.2022, Berlin: Sahra Wagenknecht (Die Linke) spricht im Bundestag.      (zu dpa "Eigene Partei oder doch nicht? Wagenknecht legt sich noch nicht fest") Foto: Michael Kappeler/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

Sahra Wagenknecht (Die Linke) will eine eigene Partei gründen.

Der Vertrauensverlust in Union, SPD, Grüne und FDP führt zu einem Vakuum, in das Populisten, Extremisten und Politclowns stoßen können.

Die Parteienlandschaft ist ins Rutschen geraten. Wenn die Mehrheitsverhältnisse in Deutschland schwierig waren, konnte in den vergangenen Jahrzehnten auf Bundesebene immer eine große Koalition gebildet werden, die für Stabilität und Konsens, allerdings auch für Armut an gesellschaftlichem Diskurs stand.

Mittlerweile kommen Union und SPD gemeinsam nur noch auf 44 Prozent. Sie müssten Grüne oder die Liberale mit ins Boot holen, um auf Bundesebene noch eine parlamentarische Mehrheit auf die Waagschale zu bringen. Die Auseinandersetzungen um politische Richtung und gesetzgeberische Details einer solchen Regierung möchte man sich nicht vorstellen.

Die demokratischen Parteien der Mitte stecken in einer existenziell bedrohlichen Abwärtsspirale: Die schlechten Wahlergebnisse zwingen sie in schwierige Koalitionen - wie die Ampelregierung unter Scholz. Mit ihrem Dauerstreit hinterlässt ein solches Bündnis den Eindruck, dass sich die Verantwortlichen mehr mit sich selbst als mit den Bedürfnissen der Bürgerinnen und Bürger beschäftigen. Damit vergraulen sie erst recht ihre Klientel und schrumpfen weiter. Ein Teufelskreis.

Erfolge gehen im Getöse unter

Dass es jenseits von Heizungsgesetz und Kindergrundsicherung auch eine Reihe politischer Erfolge gibt wie die gesicherte Gasversorgung, die Fachkräftezuwanderung oder auch die gerade gesetzten Impulse für Wirtschaftswachstum, geht im großen Getöse unter.

Der Vertrauensverlust in die staatstragenden Parteien Union, SPD, Grüne und FDP führt zu einem politischen Vakuum, das die Demokratie unter Druck setzt. Wenn die demokratischen Parteien der Mitte immer weniger vom Volk getragen werden, können sie auch den Staat mit seiner freiheitlich-demokratischen Grundordnung immer weniger tragen.

Ein Emmanuel Macron ist nicht in Sicht

Nicht nur die AfD kommt derzeit auf Rekordwerte, auch die Gruppe der Nichtwähler liegt mit mehr als 25 Prozent auf einem bedenklichen Niveau. In die große Lücke, die die Parteien der demokratischen Mitte lassen, können Populisten, Extremisten und politische Selbstverwirklicher stoßen. Eine neue Partei, die das Zeug hat, die Demokratie konstruktiv zu beleben wie einst „En Marche“ des französischen Präsidenten Emmanuel Macron ist jedenfalls nicht in Sicht.

So wittern andere ihre Chance. Der bayerische Chef der Freien Wähler, Hubert Aiwanger, hat gerade kundgetan, dass er 2025 für den Bundestag antreten möchte. Die Noch-Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht kokettiert schon seit Monaten öffentlich mit einer eigenen Parteigründung. Beide Bewegungen bundesweit wären weniger radikal als die AfD, aber doch mit rechts- und linkspopulistischen Tönen auf Stimmenfang.

Bewegungen und Parteien dieser Art ziehen ihre Stärke aus der Schwäche der anderen. Ein Aiwanger in Berlin oder eine eigene Wagenknecht-Partei könnte man bei stabilen Verhältnissen unter Polit-Folklore abbuchen. Nun aber sind sie ernsthafte Optionen. Mehr noch: Manch ein Demokrat der Mitte hofft insgeheim, eine neue Wagenknecht-Partei oder Freie Wähler bundesweit mögen der AfD das Wasser abgraben.

Doch mit Scharmützeln am politisch rechten Rand wird die Mitte nicht wieder stärker. Neues Vertrauen kann sie nur aus eigener Kraft gewinnen. Dafür müssen die Parteien der Mitte drei Dinge tun.

Erstens: Bindungskraft entfalten, indem sie auch jenseits von Wahlkämpfen auf Marktplätzen und im kommunalen Leben aktiv sind. Zweitens: Den politischen Streit kultivierter austragen - mit eingängigen inhaltlichen Argumenten statt mit dem Niedermachen der Konkurrenz. Kompromisse einhalten und dem Koalitionspartner Erfolge gönnen. Drittens: Die sozialen Netzwerke müssen besser, stärker und professioneller bespielt werden. Dort hat aktuell die AfD die Lufthoheit.

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