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Experte klärt aufAngst vor der zweiten Welle – Wagt Putin eine neue Mobilisierung?

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Wladimir Putin

Wladimir Putin

Lange war in Russland und der Ukraine spekuliert worden, ob Putin eine zweite Mobilisierungswelle ausrufen wird. In der Bevölkerung sind die Sorgen groß.

Schon seit Wochen gibt es Gerüchte, dass Russlands Machthaber Wladimir Putin in der zweiten Januarhälfte eine neue Mobilisierungswelle ausrufen wird. Russische Militärblogger rechneten damit, dass dies womöglich noch in dieser Woche passiert, wie der US-Thinktank Institute for the Study of War (ISW) im Lagebericht schrieb. Zuvor hatten immer wieder ukrainische und westliche Geheimdienste wiederholt vor Putins Mobilisierungsvorbereitungen für Mitte Januar gewarnt. Von bis zu 500.000 zusätzlichen Soldaten ging zuletzt der Vizegeheimdienstchef Vadym Skibitsky aus.

Das kremlkritische Portal Verstka hatte darüber berichtet, dass die russischen Behörden unter Hochdruck daran arbeiten, die Fehler der ersten Mobilisierungswelle zu beheben. „Für die nächste Einberufungswelle, die nach Neujahr beginnen könnte, werden die Behörden viel besser vorbereitet sein“, heißt es in dem Bericht.

Wladimir Putin lässt Gelegenheit zur Mobilisierung verstreichen

An diesem Mittwoch ließ Putin dagegen erneut die Gelegenheit verstreichen, die zweite Mobilisierung auszurufen. Den Militärexperten András Rácz überrascht das nicht. „Russland braucht eigentlich keine neue Mobilisierung zum jetzigen Zeitpunkt“, sagt er im Gespräch mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). Von den 300.000 mobilisierten Russen im September würden erst 80.000 in der Ukraine kämpfen. „Die anderen 220.000 Soldaten werden in Russland und in Belarus noch ausgebildet und trainiert“, so der Experte für Russlands Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP).

Am 21. September hatte der russische Präsident Wladimir Putin schon einmal die Mobilmachung von 300.000 Reservisten und Rekruten angekündigt. Damals gab es Brandanschläge auf Rekrutierungsbüros und Attentate. Für viele mobilisierte Soldaten fehlten Waffen, Kleidung und andere Ausrüstung.

Russlands Ausbildungssystem ist „völlig überlastet“

Dass Putin keine zweite Mobilisierungswelle ausruft, hat gleich mehrere Gründe. „Eine zweite Mobilisierungswelle würde ernsthafte logistische Probleme zur Folge haben“, sagt Rácz. Denn das russische Rekrutierungs- und Ausbildungssystem sei nur für die Aufnahme von etwa 130.000 Personen optimiert. Dies entspricht in etwa der Zahl der Wehrpflichtigen, die im Frühjahr und Herbst eingezogen werden. „Jetzt ist das Ausbildungssystem des Militärs völlig überlastet“, so Rácz. Denn dort müssten jetzt nicht nur die 130.000 Rekruten von der Einberufung im Herbst ausgebildet werden, sondern auch die 220.000 Russen der ersten Mobilisierung trainieren.

Derzeit sind nach Einschätzung des Experten beinahe dreimal so viele Soldaten wie üblich im russischen Ausbildungssystem. Offenbar ist man vollkommen überfordert mit der Ausbildung und dem Training, auch weil viele erfahrene Offiziere und Ausbilder in der Ukraine kämpfen oder bereits verstarben. „Es fehlt an Ausbildern, an Unterkünften, an Infrastruktur“, macht Rácz deutlich. Russlands Ausbildungssystem sei seit Wochen überfordert und könne jetzt schlichtweg keine weitere Mobilmachung bewältigen.

Putin hatte immer wieder betont, dass es keine weitere Mobilmachung geben werde. Erst am Dienstag sah sich Kremlsprecher Dmitri Peskow gezwungen, die Gerüchte um eine bevorstehende Mobilmachung erneut zurückzuweisen. Die russische Bevölkerung, so beobachtet es Rácz, befürchtet seit Wochen, dass die erste Mobilisierungswelle nicht die letzte war. Der rechtliche Rahmen mache eine neue Mobilisierung jederzeit möglich, dies heize solche Gerüchte an.

Logistik kann Einsatz von 300.000 Soldaten nicht bewältigen

Das völlig überforderte Rekrutierungs- und Ausbildungssystem Russlands ist aber nur ein Grund, warum Kremlchef Putin derzeit keine Mobilmachung anordnet. Hinzu kommt, dass mehr russische Soldaten nicht automatisch zu mehr militärischen Erfolgen führen. „Das russische Logistiksystem ist überhaupt nicht in der Lage, eine Militäroperation mit 300.000 Mann zu versorgen“, sagt Rácz. Schließlich sei die russische Logistik schon im Frühjahr bei 200.000 Soldaten überfordert gewesen. Damals hatten die Russen enorme Schwierigkeiten, Munition, Medikamente, Essen und Treibstoff für die Panzer an die Frontlinien zu schaffen. Ein ungeschützter Militärkonvoi von 64 Kilometern Länge wurde so zum leichten Ziel. Lediglich über Eisenbahnschienen gelang der Transport, doch als die Distanzen zu den Bahnhöfen größer wurden, ging immer wieder der Nachschub aus.

Als dritten Grund gegen eine Mobilmachung führt Militärexperte Rácz an, dass Russland gar nicht über genügend erfahrene Kräfte verfügt, um Hunderttausende Soldaten in der Ukraine zu kommandieren. „Das größte Problem ist der Mangel an Offizieren und Unteroffizieren, die die Soldaten in der Schlacht leiten sollen.“ Man könne zwar Offiziere der Reserve heranziehen, aber ohne eine Auffrischung der Ausbildung sei der Reserveoffizier „nur ein Zivilist mit demselben Rang“. Immer wieder führten Militärexperten und westliche Geheimdienste taktische Fehler der Russen auf einen Mangel an kompetentem Führungspersonal zurück. Die Armee habe immer weniger fähige Nachwuchsoffiziere, die neue Rekruten anleiten und führen könnten, hieß es unter anderem in einer Einschätzung des britischen Geheimdienstes. Vier von fünf Generalen mit direkter operativer Verantwortung für den Vernichtungskrieg seien mittlerweile entlassen worden.

Ende der Kanonenfuttermentalität

In der Vergangenheit hatte Russland schon einmal auf Quantität gesetzt: Als die Mobilisierung am 21. September angeordnet wurde, schickte der Kreml einige der mobilisierten Soldaten innerhalb weniger Tage direkt in die Ukraine. Zehntausende Rekruten kamen im Grunde ohne jede Ausbildung und ohne jede angemessene Ausrüstung an die Front. Kanonenfutter für Russlands blutigen Krieg. „Aus russischer Sicht war das notwendig, denn diese neu mobilisierten Männer halfen den russischen Streitkräften, die Frontlinien zu stabilisieren“, erklärt Rácz die Entscheidung Russlands. Doch jetzt seien die Fronten weitgehend stabil, sodass die Russen Zeit hätten, die meisten der mobilisierten Männer viel besser auszubilden.

Gut ausgebildete Soldaten erhöhen nicht nur die Kampfkraft, sondern auch die Überlebenschancen der Einheiten. Die hohe Zahl der gefallenen und verwundeten Soldaten sorgt in Russland immer wieder für Kritik. Mehren sich die kritischen Stimmen, gerät Putin weiter unter Druck. Ob es zu Unruhen kommen könnte, die Putin gefährlich werden, ist umstritten. Klar ist aber, dass er kurz vor Beginn des Präsidentschaftswahlkampfs keine Kritik an der Kriegsführung gebrauchen kann.

Wenngleich eine zweite große Mobilisierungswelle unwahrscheinlich ist, geht die verdeckte Mobilmachung in Russland nach Einschätzung des Militär-Thinktanks ISW weiter. „Russische Militärbeamte finden weiterhin hinterhältige Mittel, um die Mobilisierung fortzusetzen“, so die Experten in Washington. Die Zentralbank der Russischen Föderation habe kurz vor dem Jahreswechsel in allen Filialen angeordnet, dass Mobilmachungsvorladungen an alle „männlichen Schuldner“ in ihrem System verschickt werden und den männlichen Schuldnern Dienstverträge vorlegen sollen.

Außerdem kündigte der russische Verteidigungsminister Sergej Schoigu in dieser Woche einen weitreichenden Umbau der russischen Armee an. Dadurch soll die Truppenstärke aufgestockt werden. Zuvor hatte Kremlchef Putin verkündet, die Zahl der Soldaten in der russischen Armee von 1,15 auf 1,5 Millionen zu erhöhen. Der ukrainische Geheimdienst schätzt, dass derzeit 280.000 russische Soldaten für den Krieg in der Ukraine stationiert sind.

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