Die Brandnacht von SolingenVerurteilte leugnen Tat auch 25 Jahre später noch

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Das Haus der Familie Genç am Tag nach dem Anschlag.

Das Haus der Familie Genç am Tag nach dem Anschlag.

Solingen – Fünf Kastanienbäume wiegen sich in der Wernerstraße in Solingen im Wind. Sie wachsen in einer Lücke, die so breit ist wie das Haus, das hier stand. Die Bäume erinnern an die fünf Menschen, die in den Morgenstunden des 29. Mai 1993 an diesem Ort ermordet wurden. Gürsün Ince, 27 Jahre alt. Hatice Genç, 18 Jahre alt. Gülüstan Öztürk, zwölf Jahre alt. Hülya Genç, neun Jahre alt. Saime Genç, vier Jahre alt. Die Namen und Geburtsdaten der Opfer stehen auf einer Gedenktafel. Gürsün, Hatice, Gülüstan, Hülya und Saime, heißt es darauf auf Deutsch und auf Türkisch, „starben als Opfer eines rassistischen Brandanschlags“.

Irgendwann im Laufe des 29. Mai werden Mevlüde und Durmus Genç den Ort aufsuchen, an dem in jener Nacht zwei ihrer Töchter, zwei Enkelinnen und eine Nichte starben. Die Gençs kommen an jedem Jahrestag hierher. „Das werde ich bis an mein Lebensende tun“, sagt Mevlüde Genç (75).

Fünf Menschen mussten sterben

Fünf Menschen starben bei dem Anschlag, acht weitere Mitglieder der Familie Genç wurden zum Teil lebensgefährlich verletzt. Ein Jahr zuvor waren im schleswig-holsteinischen Mölln Brandanschläge auf zwei von türkischen Familien bewohnte Häuser verübt worden, bei denen es drei Tote gab.

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Trauer und Politik sollen bei einem der schlimmsten rassistisch motivierten Verbrechen der deutschen Nachkriegszeit offiziell getrennt bleiben. „Der Auftritt des türkischen Außenministers Mevlüt Çavusoglu darf nicht für den Wahlkampf in der Türkei missbraucht werden“, sagte Außenminister Heiko Maas. Ein hehrer Wunsch. Maas hat sich zur öffentlichen Gedenkfeier in Solingen angekündigt, Kanzlerin Angela Merkel wird zu einem Gedenken in der NRW-Staatskanzlei kommen.

Laschet lud Çavusoglu ein

Das türkische Konsulat hat derweil türkischstämmige Solinger aufgerufen, möglichst zahlreich zu den zwei öffentlichen Gedenkfeiern zu kommen, auf denen der Außenminister der AKP spricht. Armin Laschet hatte Çavusoglu auch eingeladen, im Landtag zu reden, was die Opposition verhinderte. Çavusoglu wird jetzt „nur“ in der Staatskanzlei empfangen. Die Familie Genç habe sich einen Auftritt im Landtag gewünscht, heißt es. Aber in der Türkei ist Wahlkampf – und die AKP mit Präsident Erdogan verhaftet willkürlich Regimekritiker, auch Deutsche.

Erdogan wollte auch kommen

Wie der „Kölner Stadt-Anzeiger“ erfuhr, wollte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan ursprünglich selbst nach Solingen kommen. Laschet antwortet auf entsprechende Fragen dieser Zeitung nicht. Als NRW-Integrationsminister war er gemeinsam mit den Gençs am Grab der fünf Kinder im Heimatdorf der Familie in Mercimek. Dabei übergab er eine Spende für eine Brücke, als Symbol für deutsch-türkische Freundschaft.

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Für die Familie war das ein wunderbares Zeichen. Jedes Jahr twittert der CDU-Politiker zum Gedenktag, manchmal zeigt er sich mit einem Foto bei der Familie. Als er nicht mehr Ministerpräsident und noch nicht Bundespräsident war, hat auch Johannes Rau die Familie gemeinsam mit seiner Frau besucht und sein Beileid bekundet. Ohne Presse, rein privat.

Die Gençs möchten Politiker beim Gedenken dabeihaben, interessieren sich aber nicht für Politik. Sie möchten nur: Anteilnahme. „So einen Schmerz wünsche ich niemandem“, sagt Mevlüde Genç.

Was war passiert?

Am 29. Mai 1993 wird das Leben der Familie zerstört. An der Kreuzung Schlagbaum treffen sich am frühen Morgen vier betrunkene junge Männer aus der Skinhead-Szene. Felix K. (16), Christian B. (20) und Markus Gartmann (23) sind kurz zuvor nach einer Prügelei aus einem Gartenheim geflogen. Der 17-jährige Christian R. hat sich mit ein paar Kumpel durch den Abend gesoffen. In dieser Nacht will man den Türken einen Denkzettel verpassen. Brennen soll es in Solingen.

Christian R. schlägt als mögliches Anschlagziel das Haus der Familie Genç vor. Die Wernerstraße 81. Er wohnt schräg gegenüber und kann von seinem Fenster aus direkt auf die Spitzengardinen der türkischen Nachbarn sehen. Gemeinsam schlendert das Quartett zur Aral-Tankstelle an der Schlagbaumer Straße, wo Christian R. einen Kanister Benzin kauft.

Großflächig verteilen Felix K. und Christian R. den Brennstoff an der Haustür, auf dem Fliesenboden davor und an einer Holzverschalung im Eingang. Die Anderen stehen Schmiere. „Lauft“, rufen Felix K. und Christian R., nachdem sie das Benzin in Brand gesetzt haben.

Bis heute bleiben Zweifel

So wird der Tatverlauf im Urteil des Oberlandesgerichts Düsseldorf geschildert, das die vier jungen Männer am 13. Mai 1995 wegen Mordes, versuchten Mordes und besonders schwerer Brandstiftung zu mehrjährigen Freiheitsstrafen verurteilt. Bis heute bleiben Zweifel an der Darstellung des Gerichts. Nur Markus Gartmann gesteht, mit seinen Bekannten das Haus der Gençs angezündet zu haben. Er widerruft sein Geständnis mehrmals, zuletzt am 80. und letzten Verhandlungstag. Christian R. liefert immer neue Versionen der Tatnacht. Heute bestreitet er, wie Felix K. und Christian B., eine Beteiligung. Alle vier haben ihre Gefängnisstrafen abgesessen.

Zwei Gedenkorte erinnern heute an die Katastrophe des 29. Mai 1993. Der eine ist der Mercimek-Platz, nur einen Kilometer von der Wernerstraße entfernt. Der Platz wurde im September 2012 eingeweiht – erst sieben Jahre nach dem Ratsbeschluss. Auf dem Gelände der Mildred-Scheel-Berufskollegs, das Hatice Genç besuchte, wurde 1994 ein Mahnmal aufgestellt. Zwei Metallfiguren, die ein Hakenkreuz zerreißen. Daran hängt eine Tafel mit den Lettern: „Wir wollen nicht vergessen.“

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