Kontaktverbot in HeimenBertrams: Verfassungsbeschwerde hätte hohe Erfolgsaussichten

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Fast jeder zweite Covid-Tote in NRW lebte in einem Alten- oder Pflegeheim. (Symbolbild)

  • Michael Bertrams war Präsident des Verfassungsgerichtshofs NRW.
  • Er spricht über aktuelle Streitfälle sowie rechtspolitische und gesellschaftliche Entwicklungen.
  • Eine Verfassungsbeschwerde gegen das Kontaktverbot in Pflegeheimen hätte seiner Einschätzung nach hohe Erfolgsaussichten.

Herr Bertrams, meine Kollegin Alexandra Ringendahl hat in der Dienstag-Ausgabe am Beispiel ihres Vaters, der schwer krank in einem Pflegeheim lebt und jetzt von seiner Frau nicht mehr besucht werden darf, die Gefahr beschrieben, dass Menschen zwar nicht am Coronavirus sterben, aber dafür an Einsamkeit. Sehen Sie hier Grundrechtsfragen wie die Menschenwürde und das Recht auf Leben berührt?

Durchaus. Der geschilderte Fall zeigt ein Dilemma auf. Einerseits verfolgt der Staat das berechtigte Ziel, die besonders gefährdeten Menschen in Alten- und Pflegeheimen zu schützen. Andererseits birgt das vom Staat gewählte Mittel, die strikte Isolation, eine eigene – mitunter tödliche – Gefahrenquelle.

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Michael Bertrams

Sie würden so weit gehen, von „Todesgefahr“ zu sprechen?

Ja. Ihre Kollegin hat sehr eindrucksvoll beschrieben, wie sehr ihre Eltern unter der verordneten Trennung leiden. Und ich weiß auch aus eigener familiärer Erfahrung um die buchstäblich lebensnotwendige Bedeutung des Kontakts eines alten, schwer kranken Menschen zu seinen Angehörigen. Anders gesagt: Menschen, die ihrer sozialen Bindung beraubt werden, sterben früher. Der Staat ist deshalb mit Blick auf das vom ihm verhängte Besuchsverbot „begründungspflichtig“: Er muss darlegen, dass die von ihm angeordneten Schutzmaßnahmen notwendig und geeignet, also verhältnismäßig sind. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist ein ungeschriebener Teil des Rechtsstaatsprinzips: Der Staat darf nicht härter durchgreifen als erforderlich. Er darf auch nicht über das angemessene Maß hinaus in die Bürger- und Freiheitsrechte eingreifen. Zur Wahrung der Verhältnismäßigkeit muss zwischen den Freiheitsrechten des Einzelnen und den Sicherheitsinteressen der Gemeinschaft abgewogen werden.

Sind die Schutzmaßnahmen aus Ihrer Sicht verhältnismäßig?

Grundsätzlich ja. Aber der von Frau Ringendahl beschriebene Fall zeigt, dass es infolge dieser Schutzmaßnahmen zu Verwerfungen kommen kann. Angesichts dessen stellt sich die Frage, ob es nicht gerade mit Blick auf die Alten- und Pflegeheime und die dort drohende Gefahr sozialer Isolation notwendig ist, wie in anderen Lebensbereichen inzwischen geschehen, geeignete Lockerungsmaßnahmen vorzunehmen.

Und wie lautet die Antwort?

Ich bejahe diese Notwendigkeit. Aber letztlich kommt es auf die Praxis an. Der Präsident der Diakonie, Ulrich Lilie, hat darauf hingewiesen, dass es darum geht, Alten- und Pflegeheime vernünftig zu schützen und endlich mit Schutzmasken, Schutzkleidung, Handschuhen und Desinfektionsmittel auszustatten. Das sehe ich genauso.

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Könnten Angehörige beim Bundesverfassungsgericht den Zugang unter Verweis auf eine Verletzung der Menschenwürde erzwingen?

Die Erfolgsaussicht eines Eilverfahrens schätze ich als hoch ein, wenn plausibel dargelegt wird, dass ein striktes Kontaktverbot für den Betroffenen eine konkrete Lebensgefahr bedeutet. In dramatischen Situationen wie dem von Ihrer Kollegin beschriebenen wäre das meines Erachtens zu bejahen.

Mit welcher Folge?

Karlsruhe würde die für die Schutzmaßnahmen zuständige Behörde dazu verpflichten, der Ehefrau einen Zugang zu ihrem schwer kranken Mann unter Einhaltung der gebotenen Sicherheitsmaßnahmen zu ermöglichen. Ich könnte mir vorstellen, dass das Gericht in diesem Zusammenhang auch sehr klare Worte fände zur Fürsorgepflicht des Staates und zur Verhältnismäßigkeit seiner Maßnahmen. Es gibt ja eine doppelte Schutzpflicht des Staates: nicht nur vor der Ansteckung mit dem Coronavirus, sondern auch vor sozialer Vereinsamung. Aber die Konkretisierung dieser doppelten Schutzpflicht wäre eine Entscheidung im Einzelfall.

Von denen es sicher viele gibt.

Ja, aber es müsste jeder genau betrachtet werden. Und außerdem würde eine gerichtlich angeordnete Lockerung des Kontaktverbots als Ausnahme unter den Vorbehalt entsprechender Schutzmaßnahmen für alle Beteiligten gestellt. Und hier stoßen wir auf das schon erwähnte praktische Problem fehlender Schutzausrüstung: Wo ein Rechtsanspruch – und sei er noch so überzeugend begründet – nicht durchgesetzt werden kann, dort läuft er leer.

Also mündet alles in die Frage: Können die Verantwortlichen – im konkreten Fall die Heimleitung oder der Träger – den Zugang überhaupt ermöglichen, ohne andere Bewohner oder das Personal zu gefährden?

Richtig. Und hier würde das Gericht vermutlich ins Detail gehen und gewisse praktische Möglichkeiten eines gefahrlosen Zugangs ansprechen. Man könnte neben der schon genannten Schutzkleidung an einen speziell hergerichteten Raum denken, in dem Heimbewohner ihre Angehörigen treffen könnten. Denkbare Wege gibt es viele. Aber gangbar müssen sie sein. Und vergessen Sie eines nicht: Die doppelte Schutzpflicht des Staats gilt auch für andere gesellschaftliche Gruppen. So muss der Staat zum Beispiel auch bei Restaurant- und Laden-Besitzern nicht nur deren Schutz vor Ansteckung, sondern auch den Verlust ihrer wirtschaftlichen Existenz im Blick haben. Auch ein solcher Verlust kann im Einzelfall tödliche Folgen haben.

Das Gespräch führte Joachim Frank

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