Russische Gegenwehr enormDie Ukraine ändert ihre Taktik – Keine Pause bei Gegenoffensive

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Bachmut: Ein ukrainischer Panzer rückt vor.

Bachmut: Ein ukrainischer Panzer rückt vor.

Nachdem die ersten Wochen der ukrainischen Offensive ohne große Erfolge beendet wurden, kündigte man eine Pause an. Doch es gibt Zweifel.

Schwer umkämpfte Dörfer, Vorstöße von wenigen Metern am Tag und Hunderte, wenn nicht gar Tausende tote Soldaten auf beiden Seiten. Die ukrainische Gegenoffensive verlief bisher schleppender als von Beobachterinnen und Beobachtern gedacht. Selbst der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj räumte ein, dass sie langsamer als erhofft vorankomme.

Ob sich der Putschversuch am Wochenende in Russland auf die Offensive auswirkt, ist noch unklar. Bisher hat jedoch die starke Gegenwehr der Russen die ukrainischen Streitkräfte überrascht. Die Russen hatten sich mit Artillerie, Minenwerfern und Hubschraubern gut auf die ukrainischen Angriffe vorbereitet. Nach den ersten Wochen sollte nun eine operative Pause die Neuausrichtung der Offensive ermöglichen. Bei einer solchen Pause richtet man seine Kräfte auf die neuen Bedingungen aus, die man an der Front gesehen hat.

Angekündigte Pause bei Gegenoffensive könnte ukrainische Finte sein

Doch war diese Ankündigung womöglich nur eine Finte? „Die angekündigte operativen Pause sehe ich eher nicht“, sagt der Militärexperte Gustav Gressel vom European Council on Foreign Relations (ECFR). „Die Angriffe gehen weiter und wir sehen die gleichen Brigaden auf dem Schlachtfeld wie zu Beginn der Offensive vor drei Wochen“, so Gressel im Gespräch mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND).

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Die ukrainische Vizeverteidigungsministerin Hanna Maljar spricht ebenfalls nicht mehr von einer Pause – im Gegenteil: „Wir rücken nach und nach vor, haben Teilerfolge und drängen den Feind zurück“, teilte sie bei Telegram mit. Die Russen würden zwar Gegenschläge in den eroberten Dörfern versuchen, „aber der Feind rückt keinen Meter vor“. Unabhängig überprüfen lassen sich die Angaben nicht.

Laut Militärexperte Gressel sei aber ein Wechsel der Taktik erkennbar. „Die Ukraine setzt jetzt nicht mehr auf Schnelligkeit und Überraschung, nachdem viele Versuche, Vorpostenlinien auszumanövrieren und die Russen zu überrumpeln, gescheitert sind.“ Jetzt bereite die Ukraine ihre Angriffe stärker mit Artilleriefeuer vor und greife abgesessen an. Die Soldaten verlassen also den Schützenpanzer und greifen als Infanterie an. Außerdem versucht die Ukraine, mit Angriffen auf die russische Logistik den Druck auf die Russen zu erhöhen.

Schon jetzt ist die Gegenwehr der russischen Kräfte bei jedem Vorstoß enorm. „Die Russen verteidigen das Gebiet sehr aggressiv und führen sehr viele Gegenangriffe durch“, sagt Gressel. Nach der Einnahme jedes Dorfes musste die Ukraine mit sehr schnellen Gegenangriffen rechnen, konnte diese aber laut dem Experten weitgehend abwehren. Das gelinge auch, da die Ukraine die frisch eingenommenen Stellungen der Russen zur Vereidigung der eroberten Gebiete nutzen kann.

Ukraine mit wenig Gelängegewinnen

Die Geländegewinne sind noch gering, und bisher ist es der Ukraine nicht gelungen, die durchgehende Verteidigungslinie der Russen zu durchbrechen. „Gelingt ihr dies jedoch, kann sie in einen Bewegungskrieg übergehen und hat dann wesentlich bessere Chancen, in kurzer Zeit große Geländegewinne zu erzielen“, erläutert Gressel. Sobald die Ukraine ein russisches Stellungssystem eingenommen hat, könne sie viele Stellungen und Minenfelder der Russen für sich nutzen. Schließlich zerstören die russischen Minen auch russische Panzer. Wenn die Ukraine größere Durchbrüche ins freie Gelände macht, wo es keine vorgebauten Stellungen der Russen gibt, wird die Verteidigung dieser Gebiete schwieriger. „Die Ukraine hat dann viele offene Flanken zu verteidigen.“

Je weiter die ukrainischen Streitkräfte vorrücken, desto stärker sind sie der russischen Artillerie und den Angriffen aus der Luft ausgesetzt. Hinzu kommt, dass die Verteidigungspositionen der Russen eine gewaltige Herausforderung für die Ukraine darstellen. Russische Schützengräben hätten sich häufig als besser gebaut erwiesen als ihre ukrainischen Gegenstücke, sagten ukrainische Soldaten laut der „New York Times“. Einige Bunker seien so tief, dass sie von den ukrainischen Drohnen nicht entdeckt werden konnten.

Russen setzen Sträflinge als Kanonenfutter ein

Fachleuten sprechen von den umfangreichsten Verteidigungsanlagen in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg. Ob sie die ukrainische Offensive aufhalten können, hängt vor allem davon ab, ob Russland genug Soldaten für diese kilometerlangen Schützengräben hat. In den ersten Gräben, noch mehrere Kilometer vor der ersten Hauptverteidigungslinie, sollen Strafgefangene die ukrainischen Angreifer abwehren.

Ein Video zeigt, wie russische Spezialeinheiten durch den Schützengraben gehen und einige unbewaffnete Russen erschießen. „Die Strafgefangenen haben nur in aktiven Gefechtsphasen eine Waffe, ansonsten müssen sie sie ins Depot zurückbringen“, erklärt Gressel. Deshalb sei dies ein klares Indiz dafür, dass die Russen in den ersten Schützengräben solche Strafgefangene als Kanonenfutter einsetzen. Die Moral der Häftlinge gilt allgemein als gering. Doch wer versucht zu fliehen, wird selbst erschossen.

Die entscheidende Frage ist laut Gressel, ob die Verluste der Russen in den ersten Wochen der Offensive höher sind als die der ukrainischen Seite. Doch es gebe so wenige Informationen, dass diese Frage nicht eindeutig beantwortet werden könne. „Klar ist nur, dass beide Seiten in den drei Wochen der Offensive hohe Verluste erlitten haben.“

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