Ein Jahr Krieg in der UkraineKann Selenskyj das Morden stoppen?

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Dieses vom Pressebüro des ukrainischen Präsidenten zur Verfügung gestellte Videostandbild zeigt Wolodymyr Selenskyj, Präsident der Ukraine, während einer Videobotschaft im Februar 2022.

Dieses vom Pressebüro des ukrainischen Präsidenten zur Verfügung gestellte Videostandbild zeigt Wolodymyr Selenskyj, Präsident der Ukraine, während einer Videobotschaft im Februar 2022.

Als Kabarettist und Schauspieler vereinte Wolodymyr Selenskyj sein Land emotional wie niemand vor ihm – lange vor dem Krieg. Seine Erfolgsgeheimnisse.

Diese einende Kraft, sie ist das wohl wichtigste der fünf Erfolgsgeheimnisse des ukrainischen Staatschefs Wolodymyr Selenskyj. Der verblüffend mutige 45-Jährige hat Wladimir Putin die Stirn geboten und zugleich alle freien Gesellschaften der Erde aufgeweckt, irritiert – und inspiriert.

Seine Feinde, seine Freunde: Alle haben ihn unterschätzt. Wladimir Putins Soldaten brachten bei ihrer Invasion am 24. Februar 2022 frisch gebügelte Galauniformen in ihren Fahrzeugen mit, für die russische Siegesparade in Kiew, die nach wenigen Tagen stattfinden sollte. Daraus wurde bekanntlich nichts.

Selenskyj: „Ich brauche jetzt keine Mitfahrgelegenheit, ich brauche Munition“

Aber auch Wolodymyr Selenskyjs Verbündete im Westen mussten dazulernen. Ob sie ihn rasch in Sicherheit bringen sollen, ihn ausfliegen aus Kiew, fragten ihn US-Geheimdienstler. Selenskyj antwortete mit einem berühmt gewordenen Satz: „Ich brauche jetzt keine Mitfahrgelegenheit, ich brauche Munition.“

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Die Nachrichtenagentur Associated Press nannte als Quelle einen namentlich nicht identifizierten „hohen amerikanischen Geheimdienstbeamten“. Offen bekennen mochte sich in Washington zu dieser für die USA bis heute peinlichen Szene niemand.

Für Selenskyjs verblüffenden Mut aber gibt es inzwischen unzählige Videobeweise, der Erste datiert vom 26. Februar 2022, 6.57 Uhr. Gerade hatte Kiew eine Nacht mit krachendem russischem Raketenbeschuss hinter sich, da wagte sich, gleich nach Sonnenaufgang, der Präsident schon wieder auf die Straße und feuerte auf seine Art zurück: mit einem 40-Sekunden-Selfie.

Selenskys drei Worte, die eine magische Wirkung hatten

Der erste Satz, den er in die wackelnde Handykamera sprach, bestand nur aus drei Worten. Schon die entfalteten sofort eine magische Wirkung auf Land und Leute, die bis heute nicht nachgelassen hat.

„Ich bin hier.“ Selenskyj war nicht geflohen. Und er hatte es auch nicht vor. Mit dieser Ansage definierte er für sich selbst eine ebenso anstrengende wie anspruchsvolle neue Rolle. Plötzlich stand da in den Straßen von Kiew, inmitten einer tödlichen Bedrohung, ein moderner Held der Weltgeschichte.

Selenskyj träumte von einem Bier am Meer – und riss sich immer wieder zusammen

Dem US-Comedy-Altmeister David Letterman gestand Selenskyj in einem Interview im Dezember, schon sichtlich kriegsmüde, er träume davon, endlich mal wieder entspannt am Meer zu sitzen, mit einem kühlen Bier. Doch Selenskyj riss sich immer wieder zusammen in den letzten zwölf Monaten, Tag für Tag, Nacht für Nacht, als sei er selbst Soldat, nicht etwa jemand, der nur als Präsident über allem thront.

Selenskyj trug von nun an Armeeklamotten. Sein olives T-Shirt wurde Kult. Nach innen hieß das: Ich bin einer von euch, wir stehen das jetzt gemeinsam durch. Nach außen hieß es: Hallo, Welt? Hier ist David. Ich will dem grausigen Goliath Steine entgegenwerfen. Jetzt brauche ich nur noch eine Schleuder. Ob mir da vielleicht rasch jemand aushelfen könnte?

Die Regierungszentralen in den demokratischen Staaten der Erde hatten Mühe, Selenskyjs Botschaften einzuordnen. Was der 45-Jährige tat und sagte, war eine so nie dagewesene Respektlosigkeit gegenüber Russland: alarmierend, irritierend und inspirierend zugleich. Fasziniert sprechen manche Beobachter von einem in diesem Jahr in Kiew geborenen Neoidealismus, der der Welt neue Hoffnung gebe.

Sogar deutsche Kriegsdienstverweigerer fanden Selenskyj sympathisch

Viele Regierungen kamen erst mal durcheinander, die deutsche zum Beispiel. Am 25. Februar 2022 trafen in der Ukraine 5000 Schutzhelme aus Deutschland ein, als „deutliches Signal der Solidarität“ der damaligen Verteidigungsministerin Christine Lambrecht. Lasche Gesten wie diese erschienen mittlerweile auch den Absendern peinlich. Sie passten nicht aber zur wehrhaften Haltung des Trotzkopfs Selenskyj - den plötzlich sogar deutsche Kriegsdienstverweigerer irgendwie sympathisch fanden.

Ganz Berlin, Olaf Scholz vorneweg, sprach auf einmal weihevoll von einer Zeitenwende. Gewendet aber hatten sich aber weniger die Zeiten als der Blick darauf. Grünen-Chef Robert Habeck etwa hatte schon im Mai des Vorkriegsjahres 2021 Waffenlieferungen an die ­Ukraine ins Gespräch gebracht – und dafür eins auf den Deckel bekommen, von allen Parteien, nicht zuletzt seiner eigenen.

Selenskyj wurde 2022 zum Augenöffner, auch für die Langsameren. Der 45-Jährige, verheiratet, zwei Schulkinder, setzte viel aufs Spiel. Aber er bewirkte auch viel, nicht nur für sein eigenes Land. Endlich entdeckten im Westen auch jene den menschenverachtenden Charakter Putins, die in den Fällen Donbass und Krim noch beide Augen zugedrückt hatten.

Der Mann aus Kiew ließ den Wecker rasseln, weltweit. Das war unangenehm für bequem gewordene moderne Demokratien, die ungern etwas von äußeren Feinden hören, sich gern in intellektuellen Selbstzweifeln ergehen und in Zeiten von Viruswellen länger als nötig auf den eigenen Bauchnabel starren.

Selenskyj aber nervte unermüdlich weiter, Europa erlebe die schlimmste militärische Aggression seit 1945 – und wenn Putins Walze sich weiterfresse, seien bald auch andere Staaten an der Reihe.

Das Signal wurde verstanden, nicht nur in der Nato. Es folgten historische Premieren am laufenden Band. Das ferne Australien schickte Radpanzer vom Typ Bushmaster nach Kiew. Südkorea beteiligte sich an Sanktionen gegen Russland. Japan half der Ukraine mit Geld und verdoppelte den eigenen Wehretat. Deutschland entschloss sich schweren Herzens zuletzt sogar zur Lieferung des Kampfpanzers Leo 2.

Auch nach einem Jahr jedoch kratzen sich Laien ebenso wie Fachleute am Kopf: Woher kommen die nach wie vor erstaunliche Widerstandskraft Selenskyjs und seine weiterhin hohen Zustimmungswerte? Liegen die Erklärungen in seinen Kommunikationstechniken? Oder im Militärstrategischen?

Selenskyj hat sein Land bereits als Clown vereint

Wer das Phänomen Selenskyj erklären will, sagt Rebecca Harms, muss etwas tiefer pflügen. Man stoße dann auf einen seltenen Mix menschlicher Qualitäten, darunter einen außergewöhnlichen Mut, den Selenskyj aufgrund seiner besonderen Ausstrahlung auch auf andere übertragen könne.

Hat der Mann also Superkräfte wie die Figuren aus den Marvel-Comics? Selenskyj selbst winkt ab, als sei alles ganz normal: „Wenn du fliehst, dann flieht auch dein Nebenmann“, sagte er dem „Spiegel“.

Harms kennt Selenskyj seit vielen Jahren. Die frühere Fraktionschefin der europäischen Grünen im EU-Parlament war schon auf Demonstrationen auf dem Maidan dabei. Als offizielle Beobachterin des Parlaments verfolgte sie Selenskyjs Wahlkampf im Jahr 2019 aus der Nähe.

Stark mache ihn, sagt sie, vor allem die eigentümliche Verbindung seiner sehr ernsten Ideen von Freiheit und Würde des Menschen mit seiner kuriosen Vorgeschichte auf den Comedybühnen des Landes. Erst die Addition dieser beiden auf den ersten Blick widersprüchlichen Dinge habe zu seiner unerschütterlichen Glaubwürdigkeit geführt.

Bei der Wahl 2019 räumte Selenskyj in fast allen Wahlkreisen ab, bis tief hinein in den früher politisch eher nach Russland ausgerichteten Osten. Nur in einer kleinen Gruppe von Kreisen nahe der Grenze zu Polen hatte sein Gegenkandidat noch die Nase vorn, der Schokoladenfabrikant Petro Poroschenko.

Vorausgegangen war der Wahl eine antielitäre Welle, die das gesamte Land erfasste. Die Ukrainerinnen und Ukrainer hatten nach Jahrzehnten immer neuer Korruptionsaffären die Nase voll von Oligarchen aller Art. Besonders die Jüngeren machten 2019 mit der Abkehr von den alten Zuständen Ernst, indem sie für einen Clown stimmten: Selenskyj.

Der war zuvor jahrelang als Kabarettist durchs Land gezogen, mit der Sketchgruppe Kvartal 95, benannt nach einem Stadtteil seiner Heimatstadt Krywyj Rih. Der Durchbruch zum nationalen Star gelang Selenskyj 2015, in der Hauptrolle der TV-Serie „Diener des Volkes“. Selenskyj spielt darin einen auf „die da oben“ schimpfend radfahrenden Geschichtslehrer, ethisch und moralisch stets fest im Sattel, der plötzlich in die Rolle des Staatspräsidenten stolpert. Als Selenskyj später ins wahre politische Leben wechselte, spielte er seine Rolle in gewisser Hinsicht einfach weiter: als Mann, der jetzt mal aufräumt mit den halbseidenen Eliten. „Die vorangegangene Serie und der nun folgende Wahlkampf – das spielte sehr gut zusammen“, sagt Harms.

Selenskyj ist geübt im Umgang mit Kameras. Im Kriegsjahr 2022 erlebte Harms ihn aber auch abseits von Medienauftritten, etwa in der Begegnungen mit Familien, in denen derzeit wegen Einsatzes an der Front der Vater fehlt, der Ehemann oder der Bruder. Dies zu sehen sei herzzerreißend.

Er hat eine tiefe, eine echte Nähe zu seinem Volk
Rebecca Harms, frühere Fraktionschefin der europäischen Grünen im EU-Parlament

Paradoxerweise, sagt Harms, sei bei dem früheren Schauspieler Selenskyj vieles weniger gespielt als bei anderen Politikern: „Er hat eine tiefe, eine echte Nähe zu seinem Volk, und die Leute spüren das.“

Selenskyj hat unsichtbare und mächtige Beschützer

Putins Feinde leben gefährlich. Unter normalen Umständen wäre jeder, der dem russischen Präsidenten politisch so sehr in die Quere kommt wie Selenskyj, längst eines unnatürlichen Todes gestorben. Selenskyj aber wird auf Schritt und Tritt nicht nur von einer außergewöhnlichen Bedrohung begleitet, sondern auch mit einem außergewöhnlichen Schutz. Dazu tragen nicht nur die sichtbaren ukrainischen Leibwächter bei, die ihn physisch umgeben. Hinzu kommt ein unsichtbarer zweiter Ring.

In westlichen Militärkreisen, die sich zu diesem Thema nie offiziell äußern würden, ist von einem „mehrschichtigen System“ die Rede, zu dem diverse Geheimdienste beitragen, federführend seien die Briten. Eingeweiht seien auch die Dienste der USA, Deutschlands, Frankreichs und Israels.

Der frühere israelische Premier Naftali Bennett hatte am 9. März 2022 bei Gesprächen in Moskau nach eigenen Angaben von Putin persönlich die Zusage erreicht, Russland werde Selenskyj nicht töten. Der Westen vertraute darauf aber nicht. Organisiert wird der Schutz Selenskyjs derzeit nach dem Prinzip von „forward defense“, einer weit in die Gegenseite reichenden Aufklärung und Abwehr. Zeitweise sollen auf diese Art drei Attentate pro Woche verhindert worden sein. Söldner aus Tschetschenien etwa, die einen Anschlag auf Selenskyj verüben wollten, seien einer Bombenexplosion zum Opfer gefallen, nachdem sie sich zu einer Besprechung am Stadtrand zusammengefunden hatten. Selenskyj selbst habe davon gar nichts mitbekommen.

Selenskyj gewinnt den Multimediakrieg

Mit versteinertem Gesicht zeigte sich Selenskyj nach einem Besuch im Kiewer Vorort Butscha, wo russische Truppen einen Massenmord an wehrlosen Zivilisten begangen hatten. Gefesselte lagen mit Kopfschüssen tot auf den Straßen.

Die Berichte machten, so bitter dies alles war, Selenskyj zum frühen Gewinner im Multimediakrieg gegen Russland. Er sorgte dafür, dass jede Barbarei auch als solche weltweit bekannt wurde. So wuchs im Fall Ukraine die weltweite Abscheu gegenüber Russland schneller als in den Fällen Georgien, Tschetschenien und Syrien.

Selenskyj behielt mit Blick auf Putin einfach recht

Vor genau einem Jahr, bei der Münchener Sicherheitskonferenz wenige Tage vor Kriegsbeginn, hielt Selenskyj eine Rede, die in der Rückschau noch eindrucksvoller wirkt als damals. Mit Blick auf Putin, der einen Willen zum Angriff auf die Ukraine abstritt, sagte Selenskyj: „Einer von uns lügt.“ Dass Selenskyj klipp und klar recht behielt, bedeutete eine Tragödie für Europa, aber zugleich auch eine bis heute andauernde Stärkung seiner Autorität in einer Weltgemeinschaft, die allzu lange Putin verharmlost hat.

Selenskyjs Frau gibt ihm und der Ukraine zusätzlich Kraft

Olena Selenska stabilisiert nicht nur ihren Mann Wolodymyr, sondern ihr ganzes Land. Auch sie ist nicht geflohen. Auch sie zeigt sich auf Fotos trotzig, in schicken Outfits, als Vertreterin einer modernen ­Ukraine und als eine Frau, die, wie sie betont, die Opferrolle ablehnt.

Im US-Kongress flogen ihr die Herzen zu, als sie Bilder von ukrainischen Kindern zeigte, die durch russische Raketen getötet worden waren, darunter ein vierjähriges Kind mit Downsyndrom: „Ich bitte um etwas, um das ich normalerweise niemals bitten würde: Ich bitte um Waffen – die nicht benutzt werden, um einen Krieg auf dem Land eines anderen zu führen, sondern nur um das eigene Zuhause zu schützen und das Recht, in diesem Zuhause lebendig aufzuwachen.“

Olena und Wolodymyr treten aus Sicherheitsgründen öffentlich nur getrennt auf. Doch sie ziehen, auch darin liegt ein starke Botschaft nach einem Jahr Krieg, an einem Strang.

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