Oberste ProtestantinEKD-Ratsvorsitzende Kurschus tritt von Spitzenämtern zurück

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Die EKD-Ratsvorsitzende und westfälische Präses Annette Kurschus ist von ihren Ämtern zurückgetreten.

Die EKD-Ratsvorsitzende und westfälische Präses Annette Kurschus ist von ihren Ämtern zurückgetreten.

Kurschus war nach Vertuschungsvorwürfen unter Druck geraten und hatte für Montag überraschend ein Statement angekündigt.

Die Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen, Annette Kurschus, ist nach Vorwürfen zu ihrem Umgang mit einem Missbrauchsfall in ihrer Kirche von beiden Spitzenämtern zurückgetreten.

Sie wolle mit ihrem Schritt Schaden von ihrer Kirche abwenden. „Mit Gott und mir selbst bin ich im Reinen, und so gehe ich sehr traurig, aber getrost und aufrecht“, erklärte die 60-Jährige in einer persönlichen Stellungnahme vor Medienvertretern in Bielefeld. 

Wer ihr nachfolgt, ist offen. Der Ratsvorsitz wird vorläufig von Kurschus' Stellvertreterin, der Hamburger Bischöfin Kirsten Fehrs, übernommen, die ihr in der Stichwahl um das höchste Amt im deutschen Protestantismus 2021 unterlegen war. Ende dieser Woche tagt turnusgemäß die Landessynode der westfälischen Kirche.

Hoch emotional, teils scharf vorgetragene Erklärung der EKD-Ratsvorsitzenden

In der vorigen Woche hatte die „Siegener Zeitung“ Missbrauchsvorwürfe gegen einen früheren Kirchenmitarbeiter in Siegen öffentlich gemacht, mit dessen Familie Kurschus nach eigenen Worten lange befreundet war. Er soll ein besonderes Näheverhältnis zu jungen erwachsenen Männern ausgenutzt und von ihnen sexuelle Handlungen erzwungen haben. Kurschus hatte zunächst erklärt, sie habe von den Beschuldigungen erst zu Beginn dieses Jahres erfahren. Zwei Zeugen erklärten jedoch in eidesstattlichen Versicherungen, dass von den Vorwürfen bereits Ende der 1990er Jahre in einem Gespräch in Kurschus' Garten die Rede gewesen sei. „Ich habe allein die Homosexualität und die eheliche Untreue des Beschuldigten wahrgenommen“, sagte Kurschus am Montag in ihrer hoch emotional, teils scharf vorgetragenen Erklärung.

Zu dem Beschuldigten habe sie nie in einem Dienstverhältnis gestanden, auch nicht zu ihrer Zeit als Pfarrerin und Superintendentin im Kirchenkreis Siegen, betonte Kurschus. Sie habe zu jeder Zeit nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt. „Ich wünschte, ich wäre vor 25 Jahren bereits so aufmerksam, geschult und sensibel für Verhaltensmuster gewesen, die mich heute alarmieren würden“, so Kurschus weiter. 

Kurschus beklagt öffentlich geschürten Konflikt

Seit einer Woche sei öffentlich ein Konflikt zwischen Betroffenen von sexualisierter Gewalt und ihr als Amtsträgerin geschürt worden. „Diesen Konflikt möchte ich schon deshalb auf keinen Fall austragen, weil das die Erfolge gefährden könnte, die wir in der Aufarbeitung und Bekämpfung sexualisierter Gewalt gemeinsam mit Betroffenen in vielen Jahren errungen haben. Und die es weiterhin zu erringen gilt.“

Kurschus wandte sich gegen Sichtweisen, die ihr Bemühen um den Schutz von Persönlichkeitsrechten als mangelnde Transparenz kritisiert hätten und als Versuch, ihre eigene Haut oder ihr kirchliches Amt zu retten. „Das ist umso bitterer, als es mir niemals – und das betone ich ausdrücklich, niemals! - darum ging, mich aus der eigenen Verantwortung zu stehlen, wichtige Fakten zurückzuhalten, Sachverhalte zu vertuschen oder gar einen Beschuldigten zu decken.“ 

Kurschus: Öffentliches Vertrauen hat Schaden genommen 

Inzwischen habe die Frage nach ihrer Glaubwürdigkeit öffentlich eine derartige Eigendynamik entfaltet, dass eine „absurde und schädliche Verschiebung eingetreten“ sei: „Statt um die Betroffenen und deren Schutz geht es seit Tagen ausschließlich um meine Person. Das muss endlich aufhören. Es zieht die Aufmerksamkeit ab von den Betroffenen und von der Aufklärung des Unrechts, das ihnen angetan wurde. Um diese Aufklärung geht es. Diese Aufklärung gehört in den Fokus.“

Öffentlich Position zu beziehen, werde ihr in der gewünschten Form künftig nicht mehr möglich sein. Nur deshalb trete sie zurück. Der Dienst in beiden kirchlichen Spitzenämtern setze öffentliches Vertrauen voraus. Dieses habe Schaden genommen - und zwar ausgerechnet in dem Bereich, den sie beim Amtsantritt ausdrücklich zu ihrer „Chefinnensache“ gemacht habe, räumte Kurschus ein.

Unterstützer versuchten, Kurschus zum Bleiben zu bewegen

Sie kündigte an, auch weiter für die uneingeschränkte Aufklärung und Aufarbeitung sexualisierter Gewalt im Raum der evangelischen Kirche einzustehen. Sie wisse, dass viele enttäuscht seien über ihre Entscheidung. Doch die Enttäuschten wüssten: „Ich kann meinen Dienst nicht wirksam tun, wenn meine Aufrichtigkeit öffentlich angezweifelt und infrage gestellt wird.“

Bis zuletzt hatten Unterstützer vor allem in der westfälischen Kirchenleitung versucht, Kurschus zumindest zum Verbleib im Präses-Amt zu bewegen. Rücktrittsforderungen seien unangemessen, hatte der ehemalige Präsident des NRW-Verfassungsgerichtshofs, Michael Bertrams, als Mitglied der Kirchenleitung in einer Solidaritätserklärung im Kölner Stadt-Anzeiger online geschrieben.

NRW-Verfassungsrichter Bertrams verlässt westfälische Kirchenleitung

Als Konsequenz aus Kurschus' Rücktritt erklärte auch Bertrams seinen sofortigen Rückzug aus der Kirchenleitung, der er als nebenamtliches Mitglied seit 2012 angehört hatte. Kurschus sei „einem nicht gerechtfertigten Vertrauensentzug, verbunden mit einer erschreckenden Lieblosigkeit und Kälte an der Spitze der EKD und in den eigenen Reihen vor Ort zum Opfer gefallen“, heißt es in einem Schreiben Bertrams‘ an die Kirchenleitung, das dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ vorliegt.

Mit ihrer Rücktrittserklärung habe Kurschus „unserer Kirche noch einmal vor Augen geführt, was für eine Präses und Ratsvorsitzende sie war: ein integrer und mitfühlender Mensch, eine glaubwürdige Verkünderin der Frohen Botschaft, eine Theologin und Predigerin von einem Niveau, wie es in Deutschland nicht oft anzutreffen ist“, so Bertrams weiter. Ohne Kurschus an der Spitze der Kirchenleitung wolle er nicht länger Mitglied dieses Gremiums sein.

Kurschus war seit 2012 Präses und damit leitende Geistliche der Evangelischen Kirche von Westfalen. 2021 wurde sie zusätzlich an die Spitze des EKD-Rates gewählt. Die EKD vertritt rund 20 Millionen evangelische Christinnen und Christen in den 20 lutherischen, reformierten und unierten Landeskirchen mit etwa 13.000 Kirchengemeinden.

Kurschus absolvierte nach dem Theologiestudium in Bonn, Marburg, Münster und Wuppertal ihr Vikariat (Vorbereitungsdienst auf den Pfarrerberuf) in Siegen-Eiserfeld, wurde Gemeindepfarrerin in Siegen und 2005 Superintendentin des Reformierten Kirchenkreises Siegen. 2019 bestätigte die Landessynode der Evangelischen Kirche von Westfalen (EKvW) die Präses mit großer Mehrheit für eine weitere achtjährige Amtszeit. Die EKvW ist mit rund zwei Millionen Mitgliedern die viertgrößte Gliedkirche der EKD.

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