- Michael Bertrams war von 1994 bis 2013 Präsident des Verfassungsgerichtshofs für NRW.
- In seiner aktuellen Kolumne geht es um die Politik der Ampel-Koalition.
Köln – Eine ungeschriebene Faustregel im politischen Handwerk räumt Funktionsträgern oder Regierungen nach ihrer Amtsübernahme eine Schonfrist von 100 Tagen ein. Zeit, sich einzuarbeiten. Danach aber ist dann eine erste Bilanz fällig.
Eine solche Schonfrist gab es für die am 8. Dezember 2021 vereidigte Bundesregierung aus SPD, Grünen und FDP von Beginn an nicht. Die Kritik an der Ampel, nicht zuletzt an ihrem Umgang mit der Corona-Krise, setzte direkt ein und ist seitdem von Woche zu Woche lauter geworden. Die Folge: ein beispielloser Absturz in der Wählergunst. Obwohl immer noch keine 100 Tage im Amt, musste insbesondere Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) nach einer Erhebung des Meinungsforschungsinstituts Infratest Dimap einen in so kurzer Zeit von bei keinem Vorgänger registrierten Verlust in der Beliebtheit hinnehmen.
Ampel hat Versprechen nicht eingelöst
Ein wesentlicher Grund für diesen Negativrekord ist nach Auskunft der Demoskopen der Umstand, dass Scholz sein vollmundiges Versprechen, Führung zu zeigen, nicht eingelöst hat. Vielmehr hat er zu drängenden Fragen wie der nach einer – von ihm selbst in Aussicht gestellten – allgemeinen Impfpflicht öffentlich geschwiegen.
Der Gastautor
Michael Bertrams, geboren 1947, war von 1994 bis 2013 Präsident des Verfassungsgerichtshofs für Nordrhein-Westfalen. Als Kolumnist des „Kölner Stadt-Anzeiger“ schreibt er in seiner Reihe „Alles, was Recht ist“ regelmäßig über aktuelle Streitfälle sowie rechtspolitische und gesellschaftliche Entwicklungen.
Ein gravierender Mangel an Kommunikation geht auch auf das Konto des in der Wählergunst gleichfalls gesunkenen Karl Lauterbach (SPD), der aus der Rolle des Talkshow-Ratgebers quasi über Nacht ins Amt des Gesundheitsministers gewechselt ist. In seine politische Verantwortung fällt, dass ohne jede öffentliche Erörterung und Vorankündigung – also auch hier quasi über Nacht – der Genesenenstatus von Corona-Erkrankten um drei Monate auf ein Vierteljahr halbiert worden ist.
Zweifel an der Zulässigkeit
Schon unmittelbar nach Bekanntwerden dieser Neuregelung wurden Zweifel laut, ob sie verfassungsrechtlich zulässig sei. Meines Erachtens ist die Verfassungswidrigkeit offenkundig. Dafür muss man den rechtlichen Hintergrund kennen: Paragraf 28 c des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) ermächtigt die Bundesregierung, mit Zustimmung von Bundestag und Bundesrat durch Rechtsverordnung für Geimpfte, Getestete und vergleichbare Personen Ausnahmen von Verboten und Geboten bei der Pandemiebekämpfung zu regeln.
Eine solche Rechtsverordnung war die von der Bundesregierung im Mai 2021 erlassene „Covid-19 Schutzmaßnahmen Ausnahmenverordnung“. Danach galten Personen nach überstandener Corona-Erkrankung für die Dauer von sechs Monaten als genesen.
Geänderte Verordnung seit 15. Januar in Kraft
Diese Verordnung ist durch eine am 14. Januar veröffentlichte, von Scholz und Lauterbach unterzeichnete Verordnung mit Wirkung vom 15. Januar geändert. Nunmehr gilt der Nachweis einer überstandenen Corona-Infektion nur noch dann als Genesenen-Zertifikat, wenn er „den vom Robert Koch-Institut (RKI) im Internet unter Berücksichtigung des aktuellen Stands der medizinischen Wissenschaft veröffentlichten Vorgaben“ entspricht.
In Klartext übersetzt, bedeutet dieser Bandwurmsatz: Umfang und Dauer eines Genesenen-Nachweises beruhen auf Internet-Angaben des RKI. Dort erst erfährt man dann, dass das Institut den Genesenenstatus eigenmächtig – ohne Beteiligung von Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung– definiert hat. Aktuell eben mit einer Gültigkeitsdauer von nur noch drei statt sechs Monaten.
Verweis auf eine diffuse „Evidenz“
Begründung: Die bisherige wissenschaftliche Evidenz deute darauf hin, „dass Ungeimpfte nach einer durchgemachten Infektion einen im Vergleich zur Deltavariante herabgesetzten und zeitlich noch stärker begrenzten Schutz vor einer erneuten Infektion mit der Omikronvariante haben.“ Auf welcher wissenschaftlich fundierten Grundlage dies beruht, bleibt offen.
Ein inhaltlich derart unbestimmtes, intransparentes Verfahren zur Bestimmung des Genesenenstatus ist verfassungsrechtlich nicht vertretbar. Es überlässt die Entscheidung dem parlamentarischer Kontrolle entzogenen, auf eine diffuse „Evidenz“ gestützten behördlichen Ermessen des RKI, das sich jederzeit ändern kann.
Erhebliche Auswirkung auf bürgerliche Freiheiten
Dass sich eine solche Regelung verbietet, folgt nicht zuletzt aus der Tatsache, dass es bei der Dauer des Genesenenstatus nicht um eine bloße Formalität geht, sondern um eine Regelung von hoher Grundrechtsrelevanz. Darauf verweisen auch der wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestags in einem Gutachten und das Verwaltungsgericht Osnabrück in einem jüngst veröffentlichten Eilbeschluss.
Mit Erhalt oder Verlust des Genesenenstatus stehen und fallen zahlreiche Freiheiten für die Bürgerinnen und Bürger. Ihre Teilnahme am sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Leben hängt in erheblichem Maße davon ab, ob sie sich als genesen ausweisen können oder nicht.
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Vor diesem Hintergrund fordern die Gesundheitsminister der Länder die Rückkehr zur Rechtsverordnung vom Mai 2021. Ihr Kollege Lauterbach im Bundesgesundheitsministerium lehnt das bislang ab. Und der Bundeskanzler – schweigt. Wortkargheit darf als persönliche Charaktereigenschaft gelten. Manchmal ist sie sogar eine Tugend. Ein Bundeskanzler aber muss wissen, wann Schweigen zum Problem wird. Nicht nur in den Meinungsumfragen.