Flugblatt-AffäreWie Markus Söder nun über Aiwangers Schicksal entscheidet

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Der bayrische Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger steht auf einer Bühne in einem Festzelt in blau-weißen Farben.

Der bayrische Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger (Freie Wähler) steht in der Flugblatt-Affäre unter Druck. Am Donnerstag hat er sich erstmals für die Inhalte bei Opfern des NS-Regimes entschuldigt.

Der Flugblatt-Skandal ist auf den ersten Blick eine große Belastung für Bayerns Ministerpräsident – doch mit einem Rauswurf Aiwangers könnte Söder seine Kanzlerambitionen stärken.

In der Affäre um ein antisemitisches Flugblatt aus Schülerzeiten hat sich Hubert Aiwanger nun also entschuldigt. Er bereue es zutiefst, wenn er mit seinem Verhalten als Jugendlicher Gefühle anderer verletzt haben sollte, sagte der Vorsitzende der Freien Wähler. Zugleich aber beklagte er auch eine Kampagne gegen seine Person.

Aiwangers Bedauern für das Pamphlet, das vor 36 Jahren in seiner Schultasche gefunden worden war, kommt spät, allzu spät. Ganze sechs Tage brauchte es, bis er sich zu einem Wort der Reue gegenüber allen Opfern des NS-Regimes und deren Hinterbliebenen durchrang. Das allein ist schon empörend und wirft die Frage auf, wie ernst Aiwanger es meint, oder umgekehrt, wie halbherzig die von ihm bekundete Scham ist – nach wochenlangem Lügen, Schweigen und Verharmlosen.

Carsten  Fiedler

Carsten Fiedler

Carsten Fiedler, Jahrgang 1969, ist Chefredakteur des „Kölner Stadt-Anzeiger“ und Geschäftsführender Chefredakteur des Newsrooms der Kölner Stadt-Anzeiger Medien. Begonnen hat Fiedlers Karriere in der...

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Hubert Aiwanger: Stimmt die Version von Bruder Helmut in der Flugblatt-Affäre?

Seit Mitte August hatte ihn die „Süddeutschen Zeitung“ mehrmals mit den schweren Vorwürfen konfrontiert. Doch er stritt zunächst alles pauschal ab, drohte gar mit juristischen Schritten. Erst jetzt scheint Aiwanger erkannt zu haben, dass es um sein politisches Überleben geht.

Um es zu sichern, wird seine Entschuldigung allein nicht ausreichen. Von entscheidender Bedeutung wird vielmehr sein, ob und inwieweit die Antworten auf den 25-Fragen-Katalog, den ihm der bayrische Ministerpräsident Markus Söder (CSU) aufgebrummt hat, zu seiner Entlastung beitragen können.

Dass noch weitere wesentliche, bislang unbekannte Umstände ans Licht kommen, die zu einer völlig neuen Bewertung der Flugblatt-Affäre führen, ist eher unwahrscheinlich. Allerdings sind nach wie vor Fragen offen: Stimmt die Version von Aiwangers älterem Bruder Helmut wirklich, dass er – und nur er - das abscheuliche, menschenverachtende Pamphlet verfasst habe. Aus welchem Grund genau befanden sich dann Exemplare davon in Hubert Aiwangers Schultasche? Und was hat es mit dessen angeblichem Gebaren in seiner damaligen Klasse auf sich?

Hubert Aiwanger: Klassenkameraden berichten über abstoßende Judenwitze

In den vergangenen Tagen wurden Berichte laut, welche die Flugblätter in Aiwangers Schulranzen in einen Zusammenhang mit anderen Entgleisungen stellen.

Wenn die Aussagen ehemaliger Mitschüler stimmen, die in einem Fall mit einer eidesstattlichen Versicherung unterlegt sind, dann hatte der heutige Wirtschaftsminister und stellvertretende Ministerpräsident des Freistaats Bayern in seiner Jugend eine eigentümliche Lust am Umgang mit nationalsozialistischer Formensprache und undemokratischem, menschenfeindlichem Gedankengut.

Menschenfeindliche Witze kann ich weder bestätigen noch vollständig dementieren.
Hubert Aiwanger in einer Pressekonferenz zur Flugblatt-Affäre

Auf der Fahrt in eine KZ-Gedenkstätte soll Aiwanger als Zehntklässler einen abstoßenden Judenwitz erzählt haben. In den 1980er Jahren soll er beim Betreten des Klassenzimmers wiederholt den Hitlergruß gezeigt haben.

Gewiss, das ist alles schon sehr lange her. Zu Aiwangers Entlastung könnte man einwenden, ihm seien in jungen Jahren, noch nicht einmal volljährig, aus der Lust an der Provokation komplett die Sicherungen durchgebrannt. Zweifellos haben auch viele andere als Jugendliche Mist gebaut, sich aber später gefangen, und heute leben sie als rechtschaffene Bürger und aufrechte Demokraten.

Kann Hubert Aiwanger nach der Flugblatt-Affäre im Amt bleiben?

Tatsächlich hat Aiwanger in seiner politischen Laufbahn mit rechtskonservativen Positionen von sich reden gemacht, doch nie mit judenfeindlichen Sprüchen. Dies geht einher mit Aiwangers eigener Beteuerung, er sei „seit dem Erwachsenenalter“ weder Antisemit noch Extremist, sondern „ein Menschenfreund“.

Was aber war er dann vorher? Kann und darf es sein, dass ein Politiker mit solchen braunen Flecken in seiner Vita als stellvertretender Ministerpräsident eines großen deutschen Bundeslands im Amt bleibt? Macht hier nicht der Anspruch an einen der höchsten Repräsentanten unseres Staates den Unterschied?

Es gehört zum Grundkonsens der Demokratie in Deutschland nach 1945, dass sich jede Relativierung und Verharmlosung des Holocaust sowie die Verhöhnung der Opfer verbieten. Vor diesem Hintergrund wiegen die Versuche des Politikers Aiwanger, die Ausfälle des Schülers Aiwanger herunterzureden, umso schwerer.

Der Zeitpunkt, zu dem die Vorwürfe gegen Aiwanger öffentlich werden, darf allerdings auch nicht außer acht bleiben. Wenige Wochen vor der Landtagswahl am 8. Oktober soll für den Spitzenkandidaten der Freien Wähler augenscheinlich der maximale politische Schaden entstehen.

25 Fragen: Markus Söder entscheidet über die Zukunft von Hubert Aiwanger

Nach derzeitigem Sachstand der Flugblatt-Affäre hängt Aiwangers Zukunft von einer einzigen Person ab: von Markus Söder. Damit steckt aber auch der Regierungschef in München selbst kurz vor der nächsten Landtagswahl in einer taktischen Zwickmühle. So wächst in CSU-Kreisen bereits die Befürchtung, die Freien Wähler könnten am Wahltag von einem Rauswurf Aiwangers profitieren: Der 52-Jährige könnte sich als Märtyrer stilisieren und im rechtskonservativen Lager zulasten der CSU mobilisieren.

Umgekehrt aber gilt: Belässt Söder seinen Stellvertreter im Amt, könnte er moralisch in Mithaftung für dessen Verfehlungen genommen werden. Söders Image, in der Union eh schon stark angekratzt, könnte weiteren schweren Schaden nehmen. Seine Integrität stünde wieder einmal in Frage.

Das weiß auch Söder. Und so wird er wohl, wenn es hart auf hart kommt, gar nicht anders können, als den bayerischen Landtag um Zustimmung zu Aiwangers Entlassung als Wirtschaftsminister zu ersuchen.

Flugblatt-Affäre: Markus Söders Chance für die Kanzlerkandidatur?

Dabei war doch eigentlich schon ausgemacht, dass das Bündnis aus CSU und Freien Wählern auch über die Wahl hinaus Bestand haben sollte. Der Fall Aiwanger hat das nun fraglich gemacht. Söder selbst sagt: „Koalitionen hängen nicht an einzelnen Personen.“ Er wird also hinter den Kulissen an einer Lösung arbeiten, die da lautet: Aiwanger verzichtet aus freien Stücken auf ein Spitzenamt nach der Wahl und macht so den Weg frei für den Verbleib seiner Partei in der Regierung – unter Söders Führung.

Gelänge dem CSU-Chef das, hätte er sich in staatsmännischer Pose eines zunehmend stärker werdenden Rivalen entledigt, der zuletzt sogar unter CSU-Leuten als Volkstribun mit Franz-Josef-Strauß-Qualitäten mehr als heimliche Bewunderung erfuhr.

Selbst wenn das CSU-Wahlergebnis am 8. Oktober unter einer Politik der klaren Kante gegen Aiwanger zu leiden hätte, könnte Söder sich als aufrechter Kämpfer gegen Antisemitismus und für demokratische Werte darstellen. Damit würde er auch seine Chancen auf die Kanzlerkandidatur der Union in der nächsten Bundestagswahl wahren, wenn nicht sogar steigern. Diese Gelegenheit dürfte ein Markus Söder sich nicht entgehen lassen. (caf)

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