Interview mit Navid Kermani„Grenzen sind auch etwas Schönes“

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Navid Kermani, Kölner Schrifsteller und Orientalist

Köln – Navid Kermani ist Orientalist. Mit seinen vielfach ausgezeichneten Romanen, Prosawerken und Essays in Zeitungen und Magazinen gehört er zu den bedeutendsten deutschen Autoren. Zuletzt erschien von ihm „Entlang den Gräben. Eine Reise durch das östliche Europa bis nach Isfahan“.

Herr Kermani, vor zwei Jahren waren Sie auf der Balkanroute retour unterwegs. Jetzt haben Sie eine seltsame Tour von der deutschen Ostseeküste bis nach Iran unternommen, wo Ihre Familie herkommt. Wieder eine Retro-Reise?

Ich wollte im vorigen Jahr ein paar Wochen in Isfahan verbringen, der Heimatstadt meiner Eltern. Die normale Landroute, die wir in meiner Kindheit öfters im Sommer gefahren sind,  wäre über den Balkan und die Türkei gegangen. Aber da war ich ja tatsächlich erst kurz vorher auf Reportagereise unterwegs gewesen. Bei einem Blick auf die Landkarte habe ich gedacht: Die nördliche Route ist ja viel interessanter. Sie führt einmal quer durch das 20. Jahrhundert mit seinen Katastrophen – bis hin zu Tschernobyl, den Tschetschenien-Kriegen und den vielen lokalen Konflikten im Kaukasus, von denen kaum einer weiß.

Eine Zeitreise also?

Die Vergangenheit, habe ich in Osteuropa festgestellt, wirkt umso stärker nach, je weniger über sie geredet wird. In der Sowjetunion und manchen Nachfolgestaaten war vieles tabuisiert – von den Verbrechen Stalins bis zum GAU von Tschernobyl. Nicht einmal der Völkermord an den Juden wurde eigentlich thematisiert. Der Opfer wurde stets als sowjetische Bürger, nicht als Juden gedacht, obwohl die meisten doch dezidiert als Juden umgebracht worden waren. Wenn man über Traumata nicht frei öffentlich sprechen darf, dann graben sie sich ein, dann bleiben es Privatgeschichten, dann wirken sie erst recht ungut nach. Mit all den Folgen für die Gesellschaften in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion mit ihren multi-ethnischen und -religiösen Spannungen.

Woran denken Sie?

Ein Beispiel, das unmittelbar einleuchtet: Weshalb haben sich die baltischen Staaten nach 1989 sofort gen Westen ausgerichtet, während das benachbarte Weißrussland auf Moskau orientiert  blieb? Das kann man nur aus der Geschichte verstehen: Für die baltischen Nationen kam die Gefahr historisch von Russland, im 20. Jahrhundert von der Roten Armee, die so brutal agierte, dass der Einmarsch der Wehrmacht zunächst als Befreiung erlebt wurde – so unglaublich das klingt. Weißrussland hingegen, obwohl geografisch auf der gleichen Linie, ist gleichsam traumatisiert von den Gräueln der deutschen Besatzung. Nirgends haben Wehrmacht und SS so gewütet wie in Weißrussland, mit der Politik der entvölkerten Landstriche und der verbrannten Erde. So führt das kollektive historische Gedächtnis zu gegenläufigen Entwicklungen in der Gegenwart.

Das kennen West- und Ostdeutsche auch, oder?

Stimmt. Aber ich glaube, gerade in Westdeutschland haben wir uns vieles nicht klargemacht. Zum Beispiel, was die Westbindung der Bundesrepublik unter Konrad Adenauer für die Bundesrepublik und die Mentalität ihrer Bürger bedeutet hat. Noch für Thomas Mann war es eine ausgemachte Sache, dass Deutschland nicht etwa ein Teil Westeuropas ist, sondern Mitteleuropas. Mann hat geradezu danach gesucht, was die Deutschen von den Westeuropäern unterscheidet. Nach dem Holocaust hat sich die Bundesrepublik mit der Westbindung neu gefunden. Dem Rheinländer Adenauer fiele wie wahrscheinlich vom Naturell her ohnehin leichter als eine Ausrichtung auf den „preußischen Osten“. Es war dann zwar sehr klug von den Amerikanern, diese Orientierung zu fördern und stabilisieren.

Aber?

Eine Folge davon war auch, dass wir die Orte des Holocausts, die realen Stätten des Schreckens aus unserem topographischen Bewusstsein getilgt haben. NS-Terror und Völkermord wurden zur Information. Wir wussten vielleicht mehr vom Holocaust als viele Menschen in den Ländern Osteuropas. Aber wir kannten die Stätten nicht mehr: Städte, in denen 40 Prozent Juden gelebt hatten. Wo Gunter Demnigs Stolpersteine, die an ehemalige jüdische Bewohner erinnern, die Straßen zu goldbronzenen Spiegelflächen machen würden.

Sie meinen, es fehlte die sinnliche Erfahrung?

Ja. Auf meiner Reise ist sie mir auf Schritt und Tritt begegnet. In einer Stadt wie Breslau, wo nach 1945 kein einziger Bewohner mehr da war, der dort schon vor dem Krieg dort gelebt hätte; in Weißrussland, wo an den Straßenrändern Rand die Hinweistafeln auf Vernichtungslager und Soldatenfriedhöfe so dicht stehen, wie hier bei uns die Werbetafeln für Freizeitparks und Outlets. All das gab es in Westdeutschland nicht. Wir haben ja noch nicht einmal die Geschichten der Vertriebenen hören wollen. Die wurden beiseitegeschoben oder in die reaktionäre Ecke gestellt. Und der Osten des eigenen Landes war uns Linken oder Grün-Alternativen doch so was von egal!

Hat sich das nach 1989 nicht geändert?

Die Möglichkeit bestand und besteht. Aber seltsam! Wir reisen immer noch nicht in den Osten, nicht nach Ostdeutschland, noch weniger nach Osteuropa. Dabei sind das alles Nachbarn. Wir reden über sie, und das oft ziemlich arrogant, aber wir besuchen sie nicht. Dadurch entgeht uns wieder vieles – auch vieles Positive. Was zum Beispiel im Baltikum los ist an gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Dynamik, das bekommt man in Warschau mit. Aber nicht in Weimar, Wuppertal oder Wiesbaden.

„Ich hoffe, dass die Leser etwas verunsichert werden. So wie ich“

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Navid Kermani, Kölner Schrifsteller und Orientalist

In vielen Reden und Essays sind Sie als leidenschaftlicher Europäer aufgetreten. Wie bringen Sie das überein mit der Europa-Skepsis vieler Osteuropäer?

Zumindest habe ich verstanden, warum  nicht allen Menschen Europa als eine nur brillante Idee erscheint – und ich habe, aus der Mitte Europas kommend, wahrgenommen, wie anders Europa an seinen Rändern von den Menschen dort wahrgenommen wird.

Nämlich?

Als Bedrohung ihrer Eigenheiten. Als müssten sie für Wohlstand und soziale Segnungen, die Europa verheißt, mit allem bezahlen, was ihnen vertraut ist, was sie für sich beanspruchen und worin sie sich von anderen unterscheiden. Natürlich gibt es eine Sehnsucht vieler Menschen nach Eigenständigkeit, nachdem sie den sowjetischen Deckel der Gleichmacherei losgeworden sind. Sie möchten ihre eigene Sprache sprechen dürfen, ihre Religion praktizieren, ihre Kultur ausleben, ihre Bräuche pflegen dürfen. Und sie fürchten, dass Europa alles nivelliert, gewachsene Kulturen zerstört. Das gilt besonders für die Älteren. Die Jungen haben ja wenigstens noch eine Perspektive. Sie sehen, was sie durch Europa gewinnen: Sie können reisen, sie haben Austausch, die Aussicht auf Wohlstand. Aber zu den Alten kommt das Neue nicht mehr. Sie sehen nur den Verlust.

Welche Lehre ziehen Sie daraus?

Es widerspricht zwar einem Kernanliegen Europas, aber es gibt eine eigene  Qualität von Grenzen.

Eine  Qualität von Grenzen?

Sehen Sie, Sie reagieren spontan abwehrend! Wir sind es eben gewohnt, Grenzen für etwas Schlimmes und Störendes zu halten. Aber eine Grenze bedeutet ja auch, dass es drüben, auf der anderen Seite der Grenze, nicht so ist wie hier. Und das ist doch eigentlich etwas ganz Schönes. Es wäre schade, wenn es überall genauso wäre wie hier.  Der entscheidende Punkt liegt also nicht darin, dass Grenzen Unterschiede markieren, sondern dass sie durchlässig sind. Das aber war jahrzehntelang nicht der Fall.

Und ist es bis heute vielerorts nicht – weder mental noch politisch. Im Gegenteil. Es werden wieder Kriege um territoriale Grenzen geführt.

Deshalb habe ich  auf meiner Reise mindestens so viele gute Argumente gegen den Nationalstaat wie dafür. Der Kaukasus ist das beste Beispiel – mit seinen vielen Kriegen zwischen Völkern, von denen wir bestenfalls die Namen kennen: die Osseten, die Abchasen, die Dagestaner, Tschetschenen und wie sie alle heißen. Über 50 Völker mit je eigener Sprache, Kultur, Religion, Sitten und Gebräuchen leben da auf einem Gebiet, das geschätzt kleiner ist als Deutschland. Und sie leben nicht etwa getrennt voneinander, die einen in dem einen Tal, die anderen im nächsten, sondern direkt neben- und miteinander. In einer solchen Situation war der aufkommende Nationalismus nach dem Ende der Sowjetunion das Gefährlichste, was passieren konnte.

Dann suggeriert der Titel ihres Reisetagebuchs eine falsche Klarheit? Entlang den Gräben.

Das Bildwort ist bewusst vieldeutig gewählt. Mit Gräben sind natürlich – sehr konkret – die Schützengräben gemeint, die es immer noch gibt, die Schützengräben gegenwärtiger und vergangener Kriege. Gemeint sind auch die Gruben, die für die Leichen der Abertausenden Erschossenen ausgehoben wurden, überall in den Wäldern und den Weiten Osteuropas. Viele Gräben in Europa sind Gräber, Massengräber.  Es geht aber auch um die Gräben in den Köpfen, mentale Gräben zwischen Nachbarn, für die man gar nicht weit fahren muss.

Was bleibt am Ende von Ihrer Hoffnung für Europa?

Dass es endlich den Schwung nutzt, den die Wahl Emmanuel Macrons zum französischen Präsidenten gebracht hat. Dass es endlich wieder Begeisterung für ein Europa weckt, das den Menschen einleuchtet, ihnen nicht nur als Bürokratie, als ein Apparat von Behörden begegnet. Und dass Europa als gemeinsames Haus begriffen wird, in dem nicht die eine Etage immer reicher, die andere immer ärmer wird.

Aber die Unterschiede …

… sind groß, ja! Zu groß vielleicht, um immer alles gemeinsam zu machen. Vielleicht braucht es die Wiederbelebung der alten Idee von einem Europa verschiedener Geschwindigkeiten.

Sie wollen sagen, Europa könne nicht um den Preis weiterentwickelt werden, dass immer der Langsamste das Tempo vorgibt?

Ich denke heute, dass es mehr Flexibilität braucht – mehr Geschmeidigkeit, mehr Rücksicht auf gewachsene Unterschiede. Franzosen und Deutsche können vom Gefühl her viel leichter nationale Kompetenzen an die EU abgeben als beispielsweise die Polen, die 1989 überhaupt erst wieder ihre nationale Souveränität erlangt haben. Früher hätte ich in Martin-Schulz-Manier gesagt: „Entweder – oder! Wenn sie die Vereinigten Staaten von Europa nicht wollen, sollen sie doch rausgehen!“ Heute bin ich da zurückhaltender, und als jemand, der Europa immer herbeigeredet und -geschrieben hat, hoffe ich, dass die Leser auch etwas verunsichert werden. So wie ich auf Reisen.

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