Interview zur Corona-Krise„Die Lage in Brasilien ist außer Kontrolle“

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Brasilien leidet nicht nur massiv unter der Corona-Krise, sondern auch unter schweren Bränden wie hier etwa im brasilianischen Pantanal.

  • Der brasilianische Bischof Johannes Bahlmann über die Corona-Krise in Amazonien und die anhaltende Vernichtung des Regenwalds.

Herr Bischof, Brasilien ist – nach den USA und Indien – das Land mit den höchsten Corona-Fallzahlen. Wie ist die Lage bei Ihnen im Amazonas-Gebiet?

Die Regierung nennt keine Zahlen mehr – und das ist ein Indiz dafür, dass die Lage außer Kontrolle ist. Schon vor den Kommunalwahlen Anfang November gab es keine Zahlen, damit nur ja kein schlechtes Bild auf die Regierenden fällt. Man hat auch keine Schutz-Bestimmungen erlassen, weil Beschränkungen unbeliebt sind und Stimmen kosten. Die Regierung lässt die Dinge schleifen. Das ist brandgefährlich. Der Chef unseres kirchlichen Krankenhauses hat mir erst heute wieder berichtet, dass die Zahl der Covid-Patienten ständig in die Höhe geht.

Wie ist die medizinische Versorgung?

Mehr schlecht als recht. Auf das staatliche Gesundheitssystem ist kein Verlass. Wir versuchen in unserem Bistum, mit drei Krankenhäusern und zwei Lazarettschiffen alles zu tun, was in unserer Macht steht. Eines der Lazarettschiffe ist gerade jetzt wieder auf dem Amazonas unterwegs, besetzt mit freiwillig tätigen Ärzten und Pflegekräften.

Adveniat-Aktion 2020

Das katholische Lateinamerika-Hilfswerk Adveniat stellt mit seiner diesjährigen Weihnachtsaktion „ÜberLeben auf dem Land“ die Not der Landbevölkerung in den Mittelpunkt. Die Eröffnung der bundesweiten Aktion findet am ersten Advent in Würzburg statt. Die Weihnachtskollekte am 24. und 25. Dezember in allen katholischen Kirchen Deutschlands ist für Adveniat und die Hilfe für die Menschen in Lateinamerika und der Karibik bestimmt. (jf)

www.adveniat.de/spenden

Ist die Finanzierung gesichert?

Wir sind mit unseren kirchlichen Gesundheitsdiensten, das sage ich ganz offen, mehr denn je auf Spenden und auf die Unterstützung durch Hilfswerke wie Adveniat angewiesen, weil das öffentliche Gesundheitssystem seinen Verpflichtungen auch uns gegenüber nicht nachkommt. Die Zentralregierung hat während der ersten Welle zwar zusätzliche Gelder bewilligt, aber die sind wegen der Korruption in alle möglichen Kanäle geflossen, nur nicht bis zu uns. Ohne Hilfen von außen wüsste ich nicht, wie wir weitermachen sollten. Ich setze sehr darauf, dass die spürbare Solidarität der Menschen auch bis zu uns nach Amazonien reicht.

Im Windschatten der Corona-Krise geht die Zerstörung des Regenwalds weiter.

Die Regierung Bolsonaro steht unter massivem Druck der Großgrundbesitzer, die immer größere Flächen als Acker- und Weideland für den Soja-Anbau oder die Viehhaltung verlangen. Produkte übrigens, die in den Export gehen. Die Nachfrage nach Fleisch in Europa vernichtet den Regenwald. Das dürfen Sie nicht vergessen. Und bedenken Sie auch: Jeder gerodete Quadratkilometer Regenwald ist unwiederbringlich verloren. Auf die Abholzung folgt sehr schnell die Versteppung, weil unter einer nicht sehr dicken Humusschicht bloß noch Sand liegt. Amazonien als Wüste ist leider ein sehr realistisches Szenario - als Bedrohung nicht nur für die Region, sondern für den ganzen Planeten.

Sehen Sie überhaupt Chancen, diese Entwicklung zu stoppen?

Die Wahl von Joe Biden zum US-Präsidenten ist auch für uns in Amazonien Hoffnungsschimmer. Biden hat die erklärte Absicht, den Regenwald besser zu schützen. Als erste Reaktion hat Präsident Bolsonaro schon mal angedeutet, dass er das Umweltministerium neu besetzen will. Da kommt etwas in Bewegung. Wissen Sie, wir blicken heute zurück auf die Geschichte und denken: Unfassbar, was frühere Generationen alles verbrochen haben! Ich möchte nicht wissen, was künftige Generationen einmal über uns sagen werden, wenn wir der Vernichtung des Regenwalds nicht endlich Einhalt gebieten.

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Herr Bischof, ein Perspektivwechsel: Kirchlich gilt Lateinamerika in gewisser Hinsicht als Entwicklungshelfer für das alte Europa, etwa was die Beteiligung der Laien an der Verantwortung angeht. Rufe nach weiteren Schritten – Zulassung verheirateter Priester zum Beispiel – hat der Vatikan nicht erhört. Fühlen Sie sich von Rom ausgebremst?

Vieles, worüber derzeit – auch in Deutschland – diskutiert wird, existiert bei uns ja schon und wird längst praktiziert. Wir haben Laien, Frauen und Männer, als Gemeindeleiter. Gemeinden sind bei uns die vielen kleinen und kleinsten Gebilde auf dörflicher Ebene. Pfarreien als übergeordnete kirchliche Struktur haben wir dagegen nur sehr wenige. Unter dem Dach einer solchen Pfarrei versammeln sich bis zu 150 Gemeinden – und die werden zu 80 Prozent von Laien geleitet und verwaltet. Wie auch sonst!

Weil auch Ihnen die Priester fehlen?

Wo sollten sie denn herkommen? Seit dem 19. Jahrhundert hat sich in unserer Region eine „Kirche des Volkes“ herausgebildet – und diese Kirche ist eine Kirche der Laien. Das müsste sich nur auch in dem Stellenwert abbilden, den die Kirche den verantwortlichen Laien beimisst. Um jede Priesterweihe wird ein großes Gewese gemacht. Die Einführung eines Laien als Gemeindeleiter dagegen fällt in der kirchen-offiziellen Wahrnehmung – salopp gesagt – unter den Tisch. Dieser klerikal verengte Blick muss geweitet, ja ich möchte fast sagen, gereinigt werden. Dann würde der Blick frei auf die Kirche, wie sie wirklich ist.

Das Gespräch führte Joachim Frank

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