„Katastrophale Lesekompetenz“Was Eltern und die Politik jetzt tun müssen

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Ein Junge von hinten vor einem Bücher-Regal

Immer weniger Viertklässler in Deutschland können lesen.

 Jörg F. Maas, Hauptgeschäftsführer der Stiftung Lesen, erklärt im Interview, warum ein Viertel aller Viertklässler nicht richtig lesen kann.

Die Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung (Iglu) beunruhigt viele. Wie es zu der Situation kommen konnte und was Eltern tun können, um ihren Kindern das Lesen näherzubringen, erklärt Jörg F. Maas, Hauptgeschäftsführer der Stiftung Lesen, im Interview.

Herr Maas, die aktuelle Iglu-Studie zeigt, dass ein Viertel der Viertklässler nicht das Mindestniveau beim Textverständnis aufweist, das für die Anforderungen im weiteren Verlauf der Schulzeit nötig wäre. Wie konnte es dazu kommen?

Die Ergebnisse der Iglu-Studie sind zwar aktuell – der Befund aber nicht neu. Dass ein Viertel der Viertklässler in Deutschland am Ende der Grundschule nicht richtig lesen und schreiben kann, ist schon seit 20 Jahren bekannt. Allein im letzten Jahr sind drei Studien zu dem Thema erschienen. Dass das Thema erforscht wird, ist zwar gut, ändert aber nichts an dem Problem. Wir wissen, dass in kaum einem anderen europäischen Land Bildungserfolg so stark von den Bildungsvoraussetzungen der Eltern abhängig ist, wie in Deutschland.

Was bedeutet das?

Bildung wird zwar in den Kitas und Schulen fortgesetzt, beginnt aber in den Familien. Und das fängt schon an, wenn die Kinder noch sehr jung sind. Vier von zehn Eltern lesen ihren Kindern nicht vor und das ist das eigentliche Problem. Ausdruck davon ist die katastrophale Lesekompetenz von Kindern am Ende der Grundschulzeit.

Führt das Vorlesen der Eltern also dazu, dass Kinder später selbst mehr lesen?

Ganz sicher sogar. Kinder lieben Geschichten und Charaktere. Je früher Eltern ihren Kindern vorlesen, desto besser. Da ist es auch egal, ob das Kind die Geschichte noch nicht richtig versteht, und auch die Vorlesesprache ist nicht wichtig. Hauptsache ist, dass die Eltern sich vorlesend mit den Kindern beschäftigen – dann entwickelt sich die Begeisterung der Kinder für Geschichten automatisch.

Gibt es noch weitere Vorteile des Vorlesens?

Kinder, denen in den ersten sechs Jahren ihres Lebens vorgelesen wird, verfügen über einen weitaus größeren Wortschatz, haben mehr Empathie und sind kreativer. Wenn Eltern ihren Kindern regelmäßig vorlesen, ist das die beste Förderung fürs Leben und für die Bildung der Kinder.

Was hat es zur Folge, wenn Kinder in der vierten Klasse nicht richtig lesen können?

Die Kinder, die am Ende der vierten Klasse nicht richtig lesen können, werden auch in allen anderen Schulfächern Schwierigkeiten bekommen. Sprachverständnis ist ja nun einmal sehr eng an Textverständnis gebunden. Wenn ein Kind eine Rechenaufgabe sprachlich nicht versteht, kann es die Aufgabe auch rechnerisch nicht lösen.

Wenn wir nicht mehr Geld für Bildung in die Hand nehmen, werden die Studien der nächsten Jahre nicht besser aussehen
Jörg F. Maas

Gibt es Tipps oder Tricks, die Kinder zum Lesen zu motivieren?

Der beste Tipp ist das Vorlesen – und damit sollten Eltern nicht aufhören, wenn das Kind in die Schule kommt. Wenn Eltern ihren Kindern weiter vorlesen oder auch mit ihnen gemeinsam lesen, hat das immer auch positive Effekte auf das Interesse der Kinder. Am besten greifen die Eltern Dinge auf, die das Kind gerne hat. Das können Bücher über Piraten, Dinosaurier oder Umweltthemen sein.

Wie hängen Lese- und Schreibkompetenz zusammen?

Diese beiden Kompetenzen hängen sehr eng zusammen. Wenn Kindern nicht vorgelesen wurde, sie ganze Sätze gar nicht kennen oder nicht wissen, wie sich Geschichten entwickeln können, fällt ihnen auch das Schreiben schwerer. Bildung fängt nun einmal mit dem Lesen an.

Welche Rolle spielt der immer frühere digitale Medienkonsum von Kindern?

Auch wenn die Nutzung von anderen Medien sicherlich immer höher wird, haben wir in den letzten Jahren festgestellt, dass sich die Zahl der Kinder, die regelmäßig zum Buch greifen, kaum verändert hat. Leseförderung kann auch mit einem Tablet oder Smartphone funktionieren – die mediale Darreichungsform ist da nicht wichtig.

Deutschland hat in der Iglu-Studie schlecht abgeschnitten. Was machen andere Länder besser?

Das ist einfach. Wir geben etwa 4,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Bildung aus – andere Länder geben nahezu 50 Prozent mehr für Bildung aus. Ich glaube, dass das ein großer Fehler ist. Wenn wir nicht mehr Geld für Bildung in die Hand nehmen, werden die Studien der nächsten Jahre nicht besser aussehen.

Die Iglu-Studie hat zwar den Finger auf die Wunde gelegt, die Wunde ist aber seit Jahren offen und müsste behandelt werden
Jörg F. Maas

Gibt es noch andere Unterschiede?

Problematisch ist auch der wöchentliche Anteil an lesebezogenen Aktivitäten in Schulen – in Deutschland beträgt dieser im Durchschnitt 141 Minuten pro Woche.

Und in anderen Ländern?

Der EU-Durchschnitt liegt bei 190 Minuten pro Woche. Die Länder, die in der Iglu-Studie an der Spitze sind, haben mehr als 200 Minuten Lesen und Vorlesen pro Woche. Das hat direkte Auswirkungen auf die Lesekompetenzen von Kindern.

Welchen Anteil haben Corona und Homeschooling an der Verschlechterung der Lesekompetenzen?

Die Lesekompetenzen haben sich durch die ergriffenen Maßnahmen während der Pandemie deutlich verschlechtert – aber auch bereits vor Corona bestand dringender Handlungsbedarf. Außerdem waren andere Länder auch von Corona und Homeschooling betroffen – trotzdem hat sich da die Lesekompetenz teilweise sogar verbessert.

Was kann man also tun, um die Lesekompetenzen auch in Deutschland zu verbessern?

Wir brauchen mehr Mittel von Bund, Ländern und Kommunen für die Leseförderung in Schulen, Kitas und in den Familien. Wir brauchen ein stärkeres Commitment und wir sollten endlich damit aufhören, wer oder was schuld an der Situation ist und beginnen, etwas zu ändern. Die Iglu-Studie hat zwar den Finger auf die Wunde gelegt, die Wunde ist aber seit Jahren offen und müsste behandelt werden. Wer nicht lesen kann, hat keinen Zugang zu Bildung und das wird so bleiben, wenn wir nicht endlich etwas ändern.

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