Internationale BildungsstudieZu viele Grundschüler verstehen Texte schlecht - NRW will Lesezeit in den Schulen erhöhen

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Dorothee Feller (CDU), Schulministerin von Nordrhein-Westfalen

Dorothee Feller (CDU), Schulministerin von Nordrhein-Westfalen

Die Iglu-Studie deckt auf: Ein Viertel der Grundschüler erreicht nicht das Mindestniveau beim Textverständnis. Mädchen stehen besser da als Jungs.

Ernüchternd, alarmierend, bedrückend: Die Wortwahl deutscher Bildungspolitiker weist seit Jahren keinen großen Variantenreichtum auf, wenn es um die Einschätzung wichtiger Schul-Erhebungen geht. Im Herbst 2022 veröffentlichte das Berliner Institut für Qualitätsentwicklung im Bildungswesen, kurz IQB, eine Studie zur Kompetenz von Viertklässlern in den Bereichen Lesen, Zuhören und Orthografie. Die Bilanz der nordrhein-westfälischen Bildungsministerin Dorothee Feller (CDU), die erst kurz zuvor ins Amt gekommen war, lautete: „Ein Alarmsignal.“

Nun hat Fellers Kollegin im Bund, Bildungsministerin Stark-Watzinger von der FDP, die neuesten Ergebnisse der länderübergreifenden Langzeitstudie IGLU (Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung) vorgestellt. Ihr Fazit: „Alarmierend.“ 25 Prozent beziehungsweise ein Viertel der Kinder in der vierten Klasse erreichen nicht das Mindestniveau beim Textverständnis, das für die Anforderungen im weiteren Verlauf der Schulzeit nötig wäre. Dieser Anteil liegt über den Werten von 2001 (17 Prozent) und 2016 (19 Prozent). Zugleich sank der Anteil der im Lesen leistungsstarken Schülerinnen und Schüler leicht auf 8,3 Prozent (2016: 11,1 Prozent; 2001: 8,6 Prozent).

Schulchaos während der Corona-Pandemie

Für Deutschland hat die Technische Universität Dortmund die Ergebnisse erhoben. Auch die Studienleiterin Nele McElvany fand zur Zusammenfassung der Zahlen nur ein Wort, das im Übrigen bereits 2016 und 2001 die richtige Wahl gewesen wäre – alarmierend!

Ein Grund für das schlechte Abschneiden ist zweifellos das Schulchaos während der Corona-Pandemie: Der Wechsel zwischen Schulschließung und Öffnung, der vielfach mangelhaft organisierte Fernunterricht über digitale Medien, der damit verbundene Stress und die soziale Isolation – all das hat nicht nur Grundschülerinnen- und schülern zugesetzt. In der Zeit der Pandemie trat allerdings ein spezieller Aspekt deutscher Bildungswirklichkeit in den Vordergrund, der damals vor allem die ungleiche Ausstattung mit digitalen Werkzeugen und überhaupt die unterschiedliche Lernatmosphäre in Abhängigkeit vom sozialen Status der Familien betraf.

Soziale Aspekte und Migrationserfahrungen

Das ist kein exklusives Corona-Phänomen: „Es muss klar festgehalten werden, dass der Trend absinkender Schülerleistungen bereits seit 2006 besteht und die problematische Entwicklung in unserem Bildungssystem in den letzten Jahren durch diese Aspekte nur verstärkt wurde“, erklärte McElvany. Ebenso relevant seien soziale Aspekte und Migrationserfahrungen. So hätten Viertklässlerinnen und Viertklässler aus ärmeren Familien oder solche Kinder, in deren Zuhause wenig oder gar kein Deutsch gesprochen werde, deutliche Nachteile.

Diesen Befund bestätigen Forschende, die nicht unmittelbar mit den internationalen Vergleichsstudien befasst sind. So schreiben Anne Sliwka, Britta Klopsch und Lea Deinhardt in der Fachzeitschrift „Medienpädagogik“, dass PISA oder IGLU in Deutschland bereits seit 20 Jahren auf ein Problem aufmerksam machten, das als chronisch bezeichnet werden kann: Zu viele Schülerinnen und Schüler erreichen „die Mindestkompetenzstandards in den Basiskompetenzen Lesen, Schreiben und Rechnen nicht“ - wobei insbesondere Schülerinnen und Schüler in sozioökonomisch deprivierten Lagen gefährdet seien.

„Das Ziel unseres Bildungssystems, allen Kindern und Jugendlichen langfristig eine selbstbestimmte Teilhabe am ökonomischen, politischen und kulturellen Leben der Gesellschaft zu ermöglichen, wird dementsprechend verfehlt“, schreiben die Autorinnen. Das schulische Bildungsangebot passe sich an die hohe Zahl von Schülerinnen und Schülern, die aus ärmeren Verhältnissen stammten oder mit Sprachproblemen zu kämpfen hätten, schlichtweg nicht genügend an.

Spitzenreiter bei der aktuellen Studie ist Singapur

Die Iglu-Studie wird alle fünf Jahre durchgeführt. In Deutschland haben an der aktuellen Erhebung, die sich auf das Jahr 2021 bezieht, nach Angaben des Instituts für Schulentwicklungsforschung bundesweit rund 4600 Viertklässlerinnen und Viertklässler an 252 Grund- und Förderschulen teilgenommen. Weltweit beteiligten sich rund 400.000 Schülerinnen und Schüler aus 65 Staaten und Regionen. Spitzenreiter der Studie ist Singapur - das sei besonders beachtlich, da der ostasiatische Inselstaat bei der ersten Erhebung 2001 noch deutlich hinter Deutschland gelegen habe, so McElvany.

Die IQB-Studie aus dem vergangenen Jahr wartete mit Zahlen auf, die sich auf die einzelnen Bundesländer bezogen und Nordrhein-Westfalen ein schlechteres Zeugnis als dem Durchschnitt ausstellten. Besser stand Hamburg da, das sich von einem hinteren immerhin auf einen respektablen sechsten Platz vorgearbeitet hatte – was auch ein Ergebnis der Bildungspolitik in der Hansestadt ist. Mit einem Bündel von Maßnahmen arbeitet die Hamburger Schulkonferenz als Versammlung aller am Schulleben Beteiligten gegen den Bildungsnotstand an - zentral sind dabei regelmäßige Tests. Hamburgs Schülerinnen und Schüler nähmen im Schnitt alle zwei Jahre an Lernstanderhebungen teil, so Bildungssenator Ties Rabe (SPD). „Daraus erhalten Hamburgs Lehrkräfte wichtige Rückmeldungen für ihre Unterrichtsentwicklung."

Mädchen stehen besser da als Jungen

In dieser Hinsicht üben die Forschenden der TU Dortmund Kritik am deutschen Bildungssystem: Die meisten Schülerinnen und Schüler würden von Lehrkräften unterrichtet, die zur Diagnostik überwiegend informelle Verfahren nutzen. Zudem seien die Klassenlektüren für die Jahrgangsstufe 4 relativ kurz und durchschnittlich über 20 Jahre alt. Sie deckten sich kaum mit den Vorlieben der Schülerinnen und Schüler. Auch die Tatsache, das Mädchen besser als Jungen bei der Lesekompetenz dastehen, erfahre nicht ausreichend Beachtung.

Die Vorsitzende der Kultusministerkonferenz, die Berliner Bildungssenatorin Katharina Günther-Wünsch (CDU), bezeichnete die Ergebnisse vor dem Hintergrund der vergangenen Iglu-Studie und der IQB-Erhebung als „nicht vollkommen überraschend“. Die Empfehlungen der Iglu-Studie müssten nun durch Bund und Länder schnellstmöglich geprüft und umgesetzt werden.

Das Schulministerium in Düsseldorf reagiert mit der Ankündigung einer Intensivierung des Leseunterrichts. „Drei mal 20 Minuten verbindliche Lesezeit pro Woche – das ist die Kurzformel für einen ersten Schritt zur Stärkung der Basiskompetenzen in der Primarstufe“, heißt es. Vom kommenden Schuljahr an wolle das Ministerium für Schule und Bildung des Landes Nordrhein-Westfalen für alle Schülerinnen und Schüler nordrhein-westfälischer Grundschulen jede Woche verbindliche Lesezeiten im Rahmen der Stundentafel einführen.

Noch vor den Sommerferien will sich Ministerin Feller mit Schulleitungen und Schulaufsicht beraten. „Wir müssen die Schulen bestmöglich unterstützen, damit sie ihre Professionalität entfalten können – gleichzeitig müssen wir aber auch Entlastungen deutlich machen.” In dem Zusammenhang wies die Ministerin auch auf die Alltagshelferinnen und Alltagshelfer hin, die Lehrkräfte unterstützen sollen.

SPD im Landtag fordert höhere Bildungsausgaben

Dilek Engin, bildungspolitische Sprecherin der SPD-Fraktion im Düsseldorfer Landtag, stellt fest, erst vor kurzem habe der IQB-Bildungstrend verdeutlicht, dass bis zu 30 Prozent der Grundschülerinnen und Schüler in NRW in den Kernkompetenzen von Lesen, Schreiben, Rechnen und Verstehen nicht die vorgegebenen Mindeststandards erreichen. „Die heute vorgestellten Ergebnisse der Iglu-Studie scheinen diese Entwicklung zu bestätigen.“ Engin fordert eine massive Erhöhung der Bildungsausgaben und sieht die „Bildungskatastrophe“ derweil auf „neuer Alarmstufe“.

Wie gesagt: Ernüchternd, alarmierend, bedrückend. Die Wortwahl im Hinblick auf das Bildungssystem kennt nicht allzu viele Varianten.

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