Kolumne zum Gendern„Neusprech“ entfernt sich von der gewachsenen Alltagssprache

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Gendergerechte Sprache dpa

Gendergerechte Sprache ist umstritten.

  • Das berechtigte Anliegen einer geschlechtersensiblen Sprache entwickelt sich zu einer problematischen Spracherziehung, meint unser Kolumnist Michael Betrams.
  • Eine neue Folge von „Alles, was Recht ist“

Herbert Wehner, der 1990 verstorbene legendäre „Zuchtmeister“ der SPD, nahm kein Blatt vor den Mund, wenn er sich als Fraktionsvorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion politische Gegner zur Brust nahm. Auch Abweichler in den eigenen Reihen schonte er nicht vor Zurechtweisung. An diesen „Zuchtmeister“ könnte Saskia Esken, Co-Chefin der SPD, gedacht haben, als sie Ende Februar den früheren SPD-Bundestagspräsidenten Wolfgang Thierse – ohne ihn beim Namen zu nennen – maßregelte und seine kritischen Äußerungen über „Identitätspolitik“ und „gendergerechte Sprache“ als „beschämend“ und „rückwärtsgewandt“ abkanzelte.

Thierse bot daraufhin an, aus der Partei auszutreten. Dieses Angebot des 77-Jährigen erledigte sich allerdings schnell, weil Thierse innerhalb und außerhalb der SPD Zustimmung für seine Äußerungen erfuhr und Esken ihm überdies die Hand zur Versöhnung ausstreckte. Doch damit ist Thierses Kritik an Identitätspolitik und gendergerechter Sprache nicht aus der Welt. Ich teile diese Kritik. Und halte sie im Unterschied zu der von Lamya Kaddor in ihrer Kolumne „Deutschland-Cocktail“ vertretenen Position für einen beherzigenswerten Debattenbeitrag.

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Im Mittelpunkt der Identitätspolitik stehen Gruppen von Menschen, die sich durch gemeinsame kulturelle, ethnische, soziale, sexuelle oder sonstige – Identität stiftende – Merkmale auszeichnen. Die Identitätspolitik verfolgt das Ziel, diesen Gruppen höhere Anerkennung zu verschaffen, ihre gesellschaftliche Position zu verbessern und ihren Einfluss zu verstärken. Besondere Aufmerksamkeit hat dieses Bemühen im Bereich geschlechtlicher und sexueller Identität erlangt.

Dazu beigetragen hat nicht zuletzt der Lesben- und Schwulenverband in Deutschland (LSVD), ein „Bürgerrechtsverband“, der die Interessen und Belange von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, trans- und intergeschlechtlichen Menschen (LSBTI) wahrnimmt und dafür eintritt, dass diese Menschen als selbstverständlicher Teil gesellschaftlicher Normalität akzeptiert und anerkannt werden.

„Gendersternchen“ und „Binnen-I“ sind grammatische Kunstformen

Dies ist in den vergangenen Jahren in mehrfacher Hinsicht gelungen. Zu erinnern ist insoweit insbesondere an drei Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts: An sein Urteil zur Einführung des Rechtsinstituts der eingetragenen Lebenspartnerschaft für gleichgeschlechtliche Paare (2002), an seinen Beschluss zur Anerkennung eines Anspruchs von Transsexuellen auf einen ihrem empfundenen Geschlecht entsprechenden Vornamen (2005) sowie an seinen Beschluss zur Anerkennung eines dritten Geschlechts, das heißt zur Beachtung von Personen, die sich dauerhaft weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zuordnen lassen (2017). Dem hat der Gesetzgeber 2018 durch die Aufnahme der Kategorie „divers“ in das Geburtsregister Rechnung getragen.

Zu erinnern ist schließlich an die Entscheidung des Bundestags, die „Ehe für alle“ zu ermöglichen, das heißt eine Eheschließung von schwulen und lesbischen Paaren verbunden mit dem Recht zur gemeinsamen Adoption von Kindern (2017).

Dieser Hintergrund ist Thierse bestens bekannt. Daran macht er seine Kritik nicht fest. Er spricht im Gegenteil von einem „unabdingbaren Respekt vor Vielfalt und Anderssein“. Doch dies, so Thierse, „ist nicht alles“. Der Respekt müsse „eingebettet sein in die Akzeptanz von Mehrheitsentscheidungen“. Identitätspolitik – ob von rechts oder links – drohe die Gesellschaft zu spalten. Die „Debatten über Rassismus, Postkolonialismus und Gender“ würden „heftiger und aggressiver“. Man beschimpfe ihn als „reaktionär“. Vom Schwulen- und Lesbenverband werde er als „alter weißer heterosexueller Mann“ mit AfD-Positionen „abgehandelt“. Inzwischen sehe er sich als „Symbol für viele normale Menschen“, die „das Gendersternchen nicht mitsprechen“ wollten.

Der Gastautor

Michael Bertrams, geboren 1947, war von 1994 bis 2013 Präsident des Verfassungsgerichtshofs für Nordrhein-Westfalen. Als Kolumnist des „Kölner Stadt-Anzeiger“ schreibt er in seiner Reihe „Alles, was Recht ist“ regelmäßig über aktuelle Streitfälle sowie rechtspolitische und gesellschaftliche Entwicklungen.

Mit dieser Kritik spricht Thierse eine Identitätspolitik an, die ihre Forderungen absolut setzt und von Intoleranz gegenüber abweichenden Vorstellungen der Mehrheitsgesellschaft geprägt ist. Beispiel: gendergerechte Sprache. Die Kritik an dieser Sprache gilt keineswegs dem berechtigten Anliegen, das weibliche Geschlecht dort zu berücksichtigen, wo dies problemlos möglich ist und die Verwendung der weiblichen Form – wie Bäckerin, Lehrerin, Kollegin – zur Geschlechtergerechtigkeit beiträgt.

Die Kritik gilt vielmehr dem hypertrophen Bemühen, eine gendergerechte Sprache auch um den Preis der Lesbarkeit und Schönheit der Sprache durch „Gendersternchen“ und „Binnen-I“ zu schaffen und durch grammatische Kunstformen wie „Geflüchtete“ und „Fahrende“ Genderneutralität zu erzwingen. Ein derartiges „Neusprech“ wird inzwischen in vielen öffentlichen Verwaltungen dienstlich verordnet. Es entfernt sich von der gewachsenen Alltagssprache der Menschen und trägt dazu bei, dass sich das berechtigte Anliegen einer gendergerechten Sprache zu einer problematischen Spracherziehung entwickelt.

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