Anlieger bangen um ihre ExistenzNRW will Verjährungsfrist bei Straßenausbau-Beiträgen kippen

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Momentan ruhen die Arbeiten zum Ausbau des Höhenwegs in Mechernich-Vussem. Die Anwohner befürchten, dass sie nach einer geplanten Gesetzesänderung mit hohen Beträgen zur Kasse gebeten werden.

Der Höhenweg in Mechernich-Vussem wird derzeit erneuert: Die Anwohner befürchten, dass sie nach einer geplanten Gesetzesänderung mit hohen Beträgen zur Kasse gebeten werden.

Wann müssen Anlieger für den Ausbau ihrer Straße zahlen? Nach nur neun Monaten will die Landesregierung ein neues Gesetz schon wieder ändern. Das könnte für Hauseigentümer richtig teuer werden.

Wenn Politik auf Wirklichkeit trifft: Nach zwei Besuchen an zwei aufeinanderfolgenden Tagen im Kommunalausschuss des Landtags gehen Rolf Schumann und seine Mitstreiter davon aus, dass in ein paar Monaten saftige Rechnungen für den Ausbau ihrer Straße im Mechernicher Ortsteil Vussem in ihren Briefkästen liegen werden. Einer Straße, „die seit vielen Jahrzehnten existiert und die damals von den Anliegern auch mitfinanziert wurde. Nur dass es darüber anscheinend bei der Gemeinde keine Unterlagen mehr gibt“, so Schumann.

Den Höhenweg gibt es aber. Genauso wie den Spitzbergweg und den Betzelbend im Nachbarort Weiler am Berge und mit ihnen mindestens 1300 Straßen in 48 Kommunen von Nordrhein-Westfalen, die immer noch als Baustraße gewertet werden, obwohl ihre Fertigstellung mehr als 25 Jahre zurückliegt, die aber von den Kommunen mit den Anliegern immer noch nicht abgerechnet wurden.

Kommunen müssten bei den Bürgern noch 240 Millionen Euro eintreiben

Die Dunkelziffer dürfte weitaus höher liegen, schätzt der Städte- und Gemeindebund NRW. Schließlich haben an der von ihm gestarteten Umfrage nur 62 der 361 Kommunen des Landes teilgenommen. Allein der Betrag, mit denen Anlieger für die Erschließung oder den Ausbau der Straßen, an welchen sie wohnen, noch in der Kreide stehen, belaufe sich auf 240 Millionen Euro. Viel Geld, auf das die Kommunen nur ungern verzichten möchten.

Müssten sie aber. Im Juni 2022 hat der Landtag nach ellenlangen Diskussionen in der vergangenen Legislaturperiode mit großer Mehrheit ein Gesetz verabschiedet, das den Bürgern Sicherheit geben sollte, falls Kommunen nach Jahrzehnten noch mit Forderungen auf sie zukommen sollten. CDU, SPD, Grüne und FDP. Alle waren dafür.

Landesregierung will die Spatenstich-Regelung kippen

Seither gilt: Eine Gemeinde muss nach Fertigstellung einer neuen Straße innerhalb von zehn Jahren mit den Anliegern abrechnen, in Altfällen sind es 20 Jahre. Aber wann ist eine Straße fertig? Weil es über diese Frage in der Vergangenheit immer wieder zu Auseinandersetzungen und Klagen kam, zog die Landesregierung eine weitere Frist ein, die sogenannte Spatenstich-Regelung: Die besagt, dass spätestens 25 Jahre nach Baubeginn die Kosten umgelegt sein müssen.

„Darüber waren wir sehr froh“, sagt Rolf Schumann aus Mechernich. „Wir waren der Meinung, dass wir durch diese Regelung in einer längst erschlossenen Straße leben, für die keine Beiträge mehr erhoben werden können, weil der Baubeginn ja fast 60 Jahre zurückliegt.“ Zu früh gefreut. Jetzt fürchten die Anlieger, dass ihnen Gebührenbescheide ins Haus flattern, die im Extremfall bei einer Erbengemeinschaft bis zu 200.000 Euro betragen können.

Die sogenannte Spatenstich-Regelung will die Landesregierung in der kommenden Woche im Landtag mit der Stimmenmehrheit von Schwarz-Grün wieder kippen. Nach nur neun Monaten eine Gesetzänderung? Wie kann das sein?

Im Extremfall erfolgt die Abrechnung auch schon mal nach 80 Jahren

Sie stehe auf juristisch sehr wackligen Füßen, argumentiert der CDU-Abgeordnete Heinrich Frieling. Das Bundesverfassungsgericht habe erhebliche rechtliche Bedenken, die Spatenstich-Regelung aus dem Baugesetzbuch einfach so in das kommunale Abgabengesetz des Landes NRW zu übertragen.

Dem müsse man Rechnung tragen, um Rechtsstreitigkeiten vorzubeugen, so Frieling. In der Neufassung des Gesetzes, die am kommenden Mittwoch wohl mit den Stimmen von CDU und Grünen im Landtag verabschiedet wird, ist der Spatenstich gestrichen. Grundsätzlich soll dann gelten, dass die Kommunen nach Fertigstellung einer Straße 20 Jahre Zeit haben, die Bürger für die Erschließungskosten zur Kasse zu bitten.

Grundsätzlich sei dagegen nichts einzuwenden, sagt der FDP-Abgeordnete Dirk Wedel. Schließlich sei jede Gemeinde, die eine neue Straße baut, verpflichtet, die Anlieger an den Kosten zu beteiligen. Die Praxis aber zeige, dass sich Kommunen damit viel Zeit ließen. Wenn viele Jahrzehnte nach dem Straßenbau eine Rechnung komme, sei das für die Anwohner eine böse Überraschung.

Es drohe die Abrechnung von Erschließungsbeiträgen „bis in alle Ewigkeit“

„Ich kenne ein Beispiel, bei dem erst rund 80 Jahre nach dem ersten Spatenstich die zugehörige Abrechnung erstellt wurde. Das ist absolut unverhältnismäßig.“ Genau das habe man mit der Spatenstich-Regelung verhindern wollen. Die Landesregierung habe sich von den kommunalen Spitzenverbänden „vor den Karren spannen lassen“.

Seine Forderung: „Sobald der Teer vor der Haustür der Bürgerinnen und Bürger trocken ist, hat die Kommune maximal zehn Jahre Zeit die Rechnung zu stellen. Und unabhängig vom Zustand der Straße müssen alle Baumaßnahmen 25 Jahre nach dem ersten Spatenstich abgerechnet werden.“

Das wird mit dem neuen Gesetz so nicht mehr möglich sein, fürchtet der SPD-Parlamentarier Justus Moor. Im Gegenteil: „Jetzt können Erschließungsbeiträge wieder bis in alle Ewigkeit abgerechnet werden. Wenn eine Straße nach 50 Jahren mit nur sechs statt der geplanten acht Lampen ausgestattet ist - kein Problem. Wenn die Straße jetzt wieder neu hergerichtet wird, zahlen die Anlieger 90 Prozent aller Rechnungen – sowohl die von 1973 und von heute.“

Wir werden uns alle strittigen Fälle vorlegen lassen
Ina Scharrenbach (CDU), NRW-Kommunalministerin

Bei so viel Aufregung fällt es Kommunalministerin Ina Scharrenbach (CDU) schwer, die Gemüter zu beruhigen. Man dürfe bei der Diskussion nicht vergessen, dass Städte und Gemeinden „im Rahmen der Erschließung eine Leistung erbringen“. Es gebe nach einem Urteil eines Oberverwaltungsgerichts in NRW auch keine „unendliche Abrechnungspflicht“, sagt die Ministerin. Nach 30 Jahren könnten Kommunen die Anwohner nicht mehr belangen. „Wir werden uns alle strittigen Fälle vorlegen lassen“ und die NRW-Kommunen nach der Verabschiedung der Gesetzesänderung mit einem Erlass über die neue Regelung informieren. „Als Hilfestellung.“

Ina Scharrenbach (CDU), Bau- und Kommunalministerin von Nordrhein-Westfalen, kommt als Zeugin zum Untersuchungsausschuss "Hochwasserkatastrophe" in den Landtag. Scharrenbach wird zum dritten Mal zu Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten ihres Ministeriums im Zusammenhang mit der Bewältigung der Jahrhundertflut befragt. Die Opposition wirft ihr außerdem vor, dem Ausschuss nicht alle Unterlagen geliefert zu haben.

Sie sieht zur Gesetzesänderung keine Alternative: Ina Scharrenbach (CDU), Bau- und Kommunalministerin von Nordrhein-Westfalen.

Er sei entsetzt, wie im Landtag Politik gemacht werde, sagt ein enttäuschter Rolf Schumann am Ende der Debatte. „Unser Fall ist nicht mit einem Wort thematisiert worden. Und zu Wort melden durften wir uns auch nicht.“

Die Spatenstich-Regelung sei deshalb so gut gewesen, „weil sie auf einen Zeitpunkt abzielt, den der Bürger klar definieren kann“, sagt Jan Koch vom Verband Wohneigentum. „Da wäre es dann egal, ob die letzten zehn Meter Gehweg erst nach 50 oder 60 Jahren gebaut werden. Jetzt können auch die Zweit- oder gar Dritteigentümer der Immobilie zur Kasse gebeten werden. Die können im Zweifel gar nicht mehr nachvollziehen, wann der Baubeginn tatsächlich war.“

Rolf Schumann verweist auf das Bundesland Bayern. Dort hat man das juristische Problem mit einem einfachen rechtlichen Trick gelöst und das gesamte Erschließungsbeitragsrecht des Bundes einschließlich der Spatenstich-Regelung ins Landesrecht überführt. Warum das in NRW nicht geht, sei ihm ein Rätsel. Es könnte für Anwohner ein verdammt teures Rätsel werden.

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