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Mordermittlungen an Kölner Klinik – „Hoffentlich kratzt der bald ab“

Lesezeit 6 Minuten
Der angeklagte Krankenpfleger steht beim Prozess am Landgericht Aachen zwischen seinen Anwälten Volker Breyer (r) und Tanja Tomasso (l).  Ihm wird vorgeworfen, neun Patientin ermordet zu haben.

Der angeklagte Krankenpfleger steht beim Prozess am Landgericht Aachen zwischen seinen Anwälten Volker Breyer (r) und Tanja Tomasso (l).  Ihm wird vorgeworfen, neun Patientin ermordet zu haben. 

Der Krankenpfleger Ulrich S. soll auf einer Palliativstation in Würselen neun Patienten ermordet haben. Jetzt wird auch im Krankenhaus Köln-Merheim ermittelt, wo der Beschuldigte etwa sieben Jahre gearbeitet hat. 

„Es war nur eine Frage der Zeit, bis da was passiert“, sagt Krankenpflegehelfer Andreas W. Von 2016 bis 2018 hat er in der Neurochirurgie der städtischen Klinik in Köln-Merheim gearbeitet. Jetzt sitzt er als Zeuge in Saal 9 des Landgerichts Aachen.

Er berichtet von Beruhigungsmitteln, die der links von ihm hockende Angeklagte damals in seinen Nachtdiensten ohne ärztliche Anweisung verabreicht haben soll. Oder von den wechselhaften Launen des ehemaligen Kollegen, der andere Pflegerinnen und Pfleger als „Schwachköpfe“ bezeichnet habe. Der Ärzte, die er für „ahnungslos“ hielt, „Spacken“ genannt habe. Und der sich oft auch respektlos über Patienten geäußert habe.

Die Ärzte als „Spacken“ bezeichnet

„Hoffentlich kratzt der bald ab, damit ich meine Ruhe habe“, hätte der Ex-Kollege beispielsweise einmal über einen Schwerkranken gesagt. Ein anderer Patient hätte zeitweise auf die Intensivstation verlegt werden müssen, weil der Angeklagte eigenmächtig eine zu hohe Dosis Schmerz- oder Betäubungsmittel gespritzt haben soll.

Ulrich S., dunkelblaues Sweatshirt, hat sich im Gefängnis einen grauen Bart wachsen lassen. Der Angeklagte, dem neun Morde und 34 Mordversuche auf der Palliativstation des Rhein-Maas-Klinikums in Würselen vorgeworfen werden, faltet die tätowierten Hände vor seinem Gesicht. Nachdem er im Juni 2020 in Köln-Merheim einen Auflösungsvertrag unterschrieben hatte, wechselte er nach Würselen.

Er wirkt müde, etwas deprimiert, die Augen liegen tief in den Höhlen, am zwölften Tag des Mordprozesses. Aber als der Zeuge davon berichtet, wie er sich seinerzeit mit einer Kollegin gestritten habe, lacht S. plötzlich los. Als wäre er stolz darauf, wie er früher im Kollegenkreis rumgepoltert hat.

Die Staatsanwaltschaft Köln wertet Akten des Klinikums Merheim aus

Zur Anklage gebracht wurden in Aachen bisher lediglich die Ermittlungen der Polizei, die sich auf die Zeit vom Dezember 2023 bis zum Mai 2024 beziehen. Etwa 15 Jahre hat der ehemalige Zollbeamte indes als Krankenpfleger gearbeitet, sieben davon in der Klinik Köln-Merheim.

Und genau hier ist der monströs erscheinende Verdacht gegen Ulrich S. mittlerweile auch angekommen. Die Staatsanwaltschaft Köln hat Ermittlungen aufgenommen. Betrachtet werden die Zeiträume, in denen der Beschuldigte in Merheim gearbeitet hat: Von April 2010 bis Januar 2011 sowie von Februar 2014 bis September 2020.

„Wir sind derzeit damit befasst, die uns übersandten Akten umfassend auszuwerten, um dann gemeinsam mit dem Kriminalkommissariat 11 der Polizei Köln die nächsten Ermittlungsschritte anzugehen“, bestätigte Ulrich Bremer, der Sprecher der Kölner Staatsanwaltschaft, auf Anfrage des „Kölner Stadt-Anzeiger“.

Gab es auch in Köln eine erhöhte Sterberate?

Bei den Unterlagen, die das Klinikum Merheim zur Verfügung gestellt hat, dürften die Ermittler sich beispielsweise für den Verbrauch von sedierenden Medikamenten auf den Stationen interessieren, auf denen S. damals gearbeitet hat. Zudem wird wohl überprüft, ob sich Todesfälle gehäuft haben. Da es sich um „ein laufendes Verfahren“ handele, wollte sich die Klinik auf Anfrage unserer Zeitung nicht zu Details der Untersuchung äußern.

Nachdem die „zuständigen Ermittlungsbehörden Ende des vergangenen Jahres erstmals“ über die Einleitung eines Verfahrens gegen den ehemaligen Mitarbeiter informiert hätten, sei „umgehend auch eine interne Prüfung des Sachverhalts in die Wege geleitet“ worden, sagte Klinik-Sprecher René Hartmann lediglich. „Seitdem arbeiten wir eng mit den Behörden zusammen, um die Aufklärung in jeder Hinsicht zu unterstützen.“

Schon 2019 gab es Warnungen zum Verhalten des Beschuldigten

Im Prozess vor dem Landgericht Aachen war Köln-Merheim schon mehrfach Thema. Pflegeassistentin Petra Daniels (Name geändert), die dort als Auszubildende im Juni 2019 mit Ulrich S. im Spätdienst gearbeitet hat, schrieb damals einen anonymen Brandbrief an die Pflegedienstleitung.

Ein „regelrechter Rüpel“ sei „der Kerl“ gewesen, „absolut empathie- und respektlos“, berichtete die Zeugin vor einigen Wochen vor Gericht sowie  im Gespräch mit dem „Kölner Stadt-Anzeiger“. Er habe „manchen Patienten den Tod gewünscht, weil die zum Beispiel vor Schmerzen häufig geschrien, geklingelt oder sonst wie um Hilfe gebeten“ hätten: „Das hat den regelrecht genervt und wütend gemacht.“

Für viele Patienten sei es damals „gefährlich“ gewesen, wenn Ulrich S. Dienst hatte, so Daniels. Er habe Schlafmittel verabreicht, nur um seine Ruhe zu haben. „Auch an Patienten, bei denen das ausdrücklich untersagt war.“ Einmal habe sie gesehen, wie S. sich aus dem Medikamentenschrank jede Menge Beruhigungsmittel „in die Hosentasche gestopft hat“. Als der wiederum bemerkt habe, dass er beobachtet wurde, habe er sich ruhig umgedreht und zu der damaligen Pflegeschülerin gesagt: „Wenn du was brauchst, kannst du es dir hier ruhig nehmen. Interessiert sowieso niemanden, aber lass dich nicht erwischen.“

Ulrich S. soll zugegeben haben, eigenmächtig Beruhigungsmittel verabreicht zu haben

Nach dem Eingang des anonymen Beschwerdebriefs habe sie Ulrich S. zur Rede gestellt, berichtete die damalige Stationsleiterin vor Gericht. „Er sagte, er habe Patienten etwas gegeben, weil er Angst hatte, mit der Arbeit nicht fertig zu werden.“ Es sei dann zu einem Gespräch mit der Pflegedienstleitung gekommen, in dem der Ex-Kollege zugegeben habe, „aus pragmatischen Gründen“ ohne ärztliche Anordnung Medikamente verabreicht zu haben.

Der Arbeitsmediziner der Klinik habe daraufhin „von weiteren Einsätzen des Herrn S.“ abgeraten, heißt es in internen E-Mails, die vor Gericht verlesen wurden. Und ein Mitarbeiter der Personalabteilung schrieb: „Wir werden seine Berufseignung in Zweifel ziehen müssen.“  Im Juni 2020 unterschrieb S. schließlich einen Aufhebungsvertrag. Im Abschlusszeugnis attestierte die Klinik dem Pfleger trotz der Vorwürfe „große Einsatzfreude“ und „schnelle Auffassungsgabe“. Er sei „in hohem Maße zuverlässig“.

Seltsame Erinnerungslücken beim Klinikpersonal

Während in Köln die Ermittlungen erst beginnen, läuft die Beweisaufnahme am Landgericht Aachen bereits auf vollen Touren. Dabei kommen immer wieder verstörende Details zu Tage. Etwa die Tatsache, dass die Klinikapotheker nicht mitbekommen haben wollen, dass der Angeklagte immer wieder exorbitant hohe Mengen Beruhigungsmittel bestellte.

Überraschend wirkte im Laufe des Verfahrens oft auch das Aussageverhalten des Pflegepersonals, dessen Aussagen für den Angeklagten über Freiheit oder lebenslange Haft mitentscheiden können. Denn es ist ein Indizienprozess, der in Aachen geführt wird. Eindeutige Belege dafür, dass S. an einem konkreten Tag einem bestimmten Patienten eine Überdosis verabreicht hat, die dann ursächlich zum Tode führte, gibt es nicht.

Angeklagter hält sich für ein „Bauernopfer“

Die kaum zu erklärenden Erinnerungslücken und Aussagen der Palliativ-Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die oft so gar nicht übereinstimmten mit dem, was diese vor einigen Monaten bei ihren polizeilichen Vernehmungen gesagt hatten, verursachten deshalb auch beim Vorsitzenden Richter jede Menge Kopfschütteln.

Dass in „Uli’s Schicht“ viele Patienten starben, dass er eigenmächtig Midazolam spritze, dass viele Patienten nach seinen Nachtschichten „schwer erweckbar“ waren, dass all dies ein Thema beim Personal war, hatten viele Befragte bei der Polizei noch mit eindringlichen Worten beschrieben. Vor Gericht erinnerten sich die meisten erst daran, nachdem der Richter ihnen ihre polizeiliche Aussage wortwörtlich vorgelesen hatte.

Vom Angeklagten jedenfalls, der jegliche Schuld von sich weist, ist wohl kein Geständnis zu erwarten. Wie Ermittlungsakten zu entnehmen ist, hat Ulrich S. eine sehr eigene Sicht auf seine Arbeit, die wie eine Mischung aus Selbstmitleid und Größenwahn wirkt. Es sei absurd, dass er sich rechtfertigen müsse, hat er nach seiner Verhaftung am 26. Juni 2024 gesagt. Er werde zum „Bauernopfer“ gemacht, denn in Wahrheit habe er für seine Arbeit das Bundesverdienstkreuz verdient.