Landtagspräsident André Kuper und Vize-Präsidentin Berivan Aymaz im Interview über verbale Entgleisungen im Landtag. Künftig könnte ein „Heuchler “oder „Nazi “ 1000 Euro kosten.
Ordnungsgeld für Beleidigungen„Die Strafen könnten direkt von der Diät abgezogen werden“
Das Präsidium des Düsseldorfer Landtags hat das Projekt „Landtag Lokal - Demokratie vor Ort“ gestartet. Aus diesem Anlass haben Landtagspräsident André Kuper (CDU) und Vize-Präsidentin Berivan Aymaz (Grüne) die Redaktion besucht.
Bevor wir über Landespolitik sprechen: Frau Aymaz, Sie haben Verwandte in der Türkei, die vom Erdbeben betroffen sind. Jetzt sind mehrere Wochen vergangen – wie stark beschäftigt Sie das Unglück in ihrem Alltag?
Aymaz: Sehr. Da es so viele Schwerverletzte gab, wird die Zahl der Toten wohl leider noch weiter ansteigen. Jetzt kommt es darauf an, dass wir den Überlebenden und ihren Angehörigen zur Seite zu stehen. Viele haben alles verloren und sind stark traumatisiert. In NRW leben viele Menschen, die persönliche Verbindungen, Familien und Freunde in Syrien und in der Türkei haben. Deswegen ist die Anteilnahme besonders groß. Wir erleben eine überwältigende Anteilnahme und Hilfsbereitschaft.
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Wie kann das Land die Opfer unterstützen?
Kuper: Die Hilfsbereitschaft der Zivilgesellschaft ist enorm. Die syrischen und türkischen Communities haben in beeindruckender Weise gezeigt, wie gut sie organisiert sind. Viele haben von hier aus selbst Hilfstransporte organisiert. Dafür wollen wir uns bedanken. Wir wollen prüfen, welche Unterstützung über die schnelle Nothilfe des Landes hinaus zum Beispiel beim Katastrophenschutz sinnvoll ist. Es ist geplant, dass sich der Landtag damit in der nächsten Plenarwoche beschäftigt.
Herr Kuper, Sie kommen aus der Stadt Rietberg im ländlichen Kreis Gütersloh, Frau Aymaz kommt aus der Millionenstadt Köln. Wie gehen Sie mit der Herausforderung um, Großstädte genauso im Blick zu haben wie die Metropolen?
Kuper: Ja, wir beide bilden die unterschiedlichen Regionen im Präsidium ab. Die Hälfte der Menschen in Nordrhein-Westfalen lebt im ländlichen Raum, die andere in den Städten. Der Landtag kann mit seinen Beteiligungsformaten alle Bürger erreichen. Die Besuchergruppen kommen aus allen Landesteilen. Aus meiner Sicht ist die Zustimmung zur Demokratie besser als die Wahlbeteiligung das vermuten lässt.
Die geringste Wahlbeteiligung bei der Landtagswahl gab es mit 43,9 Prozent in Werdohl bei Lüdenscheid, die höchste in Monschau in der Eifel mit 72 Prozent. Wie ist das zu erklären?
Kuper: Das ist eine wichtige Frage. Deswegen haben wir eine wissenschaftliche Studie in Auftrag gegeben, die Ursachen für die unterschiedlich hohe Wahlbeteiligung untersucht. Die Ergebnisse werden im Sommer zur Landtagspräsidenten-Konferenz in Westfalen vorliegen. Für mich ist jedenfalls klar: Bei Wahlen stimmen die Menschen über Personen und politische Programme ab, nicht allein über die Demokratie als solche.
Landtag will Kontakt zu 150.000 Schülerinnen und Schülern knüpfen
Viele Menschen interessieren sich für die Bundespolitik – und für die kommunalpolitischen Entscheidung in ihrer Heimat. Die Landespolitik haben viele nicht auf dem Schirm. Woran liegt das?
Aymaz: Der Föderalismus ist das Herzstück der deutschen Demokratie. Allerdings ist er auch sehr komplex und wir müssen immer wieder daran arbeiten, ihn zu vermitteln. Gerade auch für Menschen, die zum Beispiel aus zentralistisch oder aber auch autokratisch geführten Ländern zu uns kommen, ist er noch sehr fremd. Deswegen bieten wir als Landtag den Integrationszentren auch Projekte wie die ,Demokratieschule‘ an. Zudem müssen wir das Wissen über Entscheidungsprozesse in der Demokratie auch in der schulischen Bildung verstärken.
Kuper: Dazu leistet der Landtag seinen Beitrag: Derzeit haben wir bei unseren Programmen Kontakte von früher 30.000 zu aktuell rund 90.000 Schülern pro Jahr. Geplant ist, dass wir auf 150.000 Schüler kommen. Mit den Eindrücken und Erkenntnissen der Besuche werden sie zu Multiplikatoren. Wie konkret der Einfluss der Landespolitik ist, ist ja in der Coronakrise deutlich geworden, als die Landesregierung die Regeln auch für die Schulen angepasst hat und der Landtag darüber debattierte. Es ist bequem, sich zurückzulehnen und über Gott und die Welt zu schimpfen. Unsere Herausforderung ist es, Menschen dafür zu begeistern, mitzudiskutieren. Politik zu machen, heißt dicke Bretter zu bohren.
Viele Menschen fühlen sich von der Debattenkultur abgestoßen. Sind die Sanktionen für Beleidigungen und persönliche Diffamierungen ausreichend?
Kuper: Die Krisen unserer Zeit haben dazu geführt, dass auch in den Familien und im Freundes- und Bekanntenkreis intensiver diskutiert wird. Das gehört zu einer lebendigen Demokratie zwingend dazu. Auch im Parlament darf und muss gestritten werden. Aber zur Debatte gehört auch, dass Spielregeln beachtet werden. Es ist weder erlaubt, jemanden als „Heuchler“ zu titulieren, noch jemanden als „Nazi“ zu bezeichnen. In der vergangenen Wahlperiode ist die Zahl der Rügen von 21 auf 113 angestiegen. Das Präsidium hat den Fraktionen jetzt einen Vorschlag gemacht, der Entgleisungen eindämmen soll.
Was ist geplant?
Kuper: Wir schlagen eine Änderung des Abgeordnetengesetzes vor. Im Bundestag gibt es die Möglichkeit, Rügen mit einem Ordnungsgeld zu verbinden. Bei der ersten Rüge werden 1000 Euro fällig, im Wiederholungsfall sind höhere Strafen möglich. Solche Sanktionen könnten auch im Landtag in den Plenarsitzungen auf die ‘gelbe Karte‘ folgen. Die Strafen könnten den Betroffenen direkt von der Diät abgezogen werden. Wenn es ans Portemonnaie geht, wird sich mancher hoffentlich mäßigen.
Der Landtag sollte eigentlich ein Abbild der Bevölkerung sein. So ganz klappt das ja noch nicht: Knapp neun Prozent haben einen Migrationshintergrund, drei Viertel sind Männer. Wie kann man das ändern?
Kuper: Welche Direktkandidaten die Bürger wählen, können wir natürlich nicht beeinflussen. Die Parteien können aber versuchen, attraktiver für alle Menschen zu werden. Ich wünsche mir, dass im Landtag mehr Frauen sitzen. Alle Fraktionen müssen darüber nachdenken, wie sie die Arbeit in der Partei familienfreundlicher machen und gezielt auch Frauen und Migrantinnen und Migranten ansprechen.
Im Kabinett gibt es derzeit keinen Minister und keine Ministerin mit Migrationshintergrund. Frau Aymaz, Sie haben in der Vergangenheit stets auf mehr Diversität gepocht. Wie sehen Sie diesbezüglich die Besetzung des Kabinetts?
Aymaz: Ich hätte mir natürlich ein vielfältigeres Kabinett gewünscht. Aber ich bin zuversichtlich, dass die derzeitigen Kabinettsmitglieder die Vielfalt der Gesellschaft sehr wohl im Blick behalten. Und ich bin froh, dass endlich im Präsidium – der Repräsentanz unseres Parlaments– mit mir eine Person mit Migrationshintergrund sitzt. An dem Tag, an dem ich gewählt wurde, kamen eine Dame von der Garderobe und Personal von der Pforte mit Tränen in den Augen zu mir. Das Personal im Landtag ist ja sehr divers; Sie haben mich umarmt und gesagt: Das ist einer der glücklichsten Tage, die wir in diesem Haus erleben. Ich muss ehrlich sagen: es war mir selber nicht mehr so bewusst, was so eine Besetzung für eine Signalwirkung hat. Auch beim Jugendlandtag, unserem Rollenspielformat, meldete sich plötzlich eine große Anzahl an jungen Menschen mit Migrationsgeschichte und Fluchterfahrung.
Und trotzdem ist man immer noch nicht da, wo man eigentlich sein möchte…
Aymaz: Politische Teilhabe muss für alle möglich sein. Da gibt es noch einige Hürden abzubauen. Es ist ja nicht so, dass Menschen mit Migrationsgeschichte unpolitisch wären, ganz im Gegenteil. Gehen Sie mal auf die Demo am 8. März und Sie werden sehen, wie viele Frauen mit Migrationsgeschichte, iranische Frauen, kurdische Frauen, auf den Straßen sein werden. Sie sind sehr engagiert. Aber der Zugang in die Parteienpolitik ist für sie oftmals immer noch sehr schwer.
Volksverhetzende Aussagen sollen strafrechtlich geahndet werden
Im Sommer wird in der Türkei gewählt. Die AKP führt ja auch in Deutschland Wahlkampf, zuletzt trat ein AKP-Politiker in einer Moschee in Neuss auf und fiel mit volksverhetzenden Aussagen auf. Tut NRW genug, um dem Einhalt zu gebieten?
Aymaz: Wahlkampf ist ja erst einmal ein Zeichen von gelebter Demokratie. Aber Demokratie muss auch demokratisch gestaltet sein. Und wir wehren uns auf allen Ebenen, wenn unsere Demokratie von Demokratiefeinden für ihre Zwecke missbraucht wird. Ein ausländischer Wahlkampfauftritt muss genehmigt werden, diese Regeln gilt es, konsequent einzuhalten. Es kann nicht sein, dass der Anschein entsteht, dass wir unsere eigenen Regularien nicht ernst nehmen. Volksverhetzende Aussagen sind absolut inakzeptabel und sie müssen politisch wie auch strafrechtlich geahndet werden.
Der Auftritt in Neuss war nicht genehmigt. Aktivisten sprechen schon seit Monaten von unangemeldeten Wahlkampfauftritten von AKP-Politikern, beispielsweise in DITIB-Moscheen.
Aymaz: Solche unangemeldeten Auftritte zu vermeiden, ist gar nicht so einfach. Sie können ja nur schwer nachvollziehen, wer aus dem Ausland für völlig legale Besprechungen anreist und wer unangemeldet Wahlkampf führt. Aber gerade in transnationalen Gesellschaften müssen wir solche Themen auf die politische Agenda setzen. Unsere Gesellschaft, Behörden und Politik müssen dafür viel stärker sensibilisiert werden, als es bisher geschehen ist.
Kuper: Es wird immer solche Versuche geben. Aber wo Verstöße geschehen, müssen diese auch verfolgt werden.
Während der Sitzungen sind Sie ja zur Überparteilichkeit verpflichtet. Gibt es Situationen, in denen das schwerfällt.
Kuper: Ich vergleiche unsere Position ja gerne mit der eines Schiedsrichters. Schiedsrichter sind professionell ausgebildet und haben einen hohen Anspruch an sich und ihre Leistung. Nichtsdestotrotz gibt es nach jedem Fußballsamstag eine Debatte, ob sie diesem Anspruch gerecht wurden oder nicht. Bei uns ist es ähnlich.
Durch diese Überparteilichkeit können Sie weniger in der Innenpolitik des Landes mitmischen. Vermissen Sie das?
Kuper: Nein. Wir sind ja ein Stück Botschafter für die Demokratie und darin sehr engagiert. Ich mache das, was ich tue, von Herzen gerne.
Aymaz: Was gibt es Politischeres in Zeiten wie diesen, als die Demokratie zu verteidigen?
Frau Aymaz, Sie sind relativ frisch im Amt als Landtagsvizepräsidentin. In Köln wird dagegen gerade diskutiert, ob Sie für das Amt der Oberbürgermeisterin zur Verfügung stehen.
Aymaz: Ich liebe die Arbeit, die ich gerade mache.
Würden Sie eine OB-Kandidatur denn ausschließen?
Aymaz: Wir haben gerade erstmal 2023. Die nächsten OB-Wahlen sind 2025. Im Moment sind für mich andere Themen auf der Tagesordnung.