Deutsche Schüler immer schlechterWas Kölner Schulleitungen und Forscher nach dem Pisa-Debakel fordern

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ARCHIV - 02.07.2021, Nordrhein-Westfalen, Gütersloh: Eine Klassenlehrerin hält das Zeugnis eines Schülers einer Schule in Gütersloh hoch. Bei Sorgen und Nöten rund ums Zeugnis schalten die fünf NRW-Bezirksregierungen auch in diesem Jahr wieder das Zeugnistelefon. Es dient dazu, eine «telefonische Rechtsberatung bei Fragen zu Noten und zur Schullaufbahn» zu liefern, wie die Bezirksregierungen mitteilen. (zu dpa: «Zeugnistelefone der Bezirksregierungen wieder erreichbar») Foto: David Inderlied/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

Eine Klassenlehrerin hält das Zeugnis eines Schülers hoch. (Symbolbild)

Deutschland hat bei der Bildungserhebung so viel verloren wie noch nie. Die Experten sind sich einig: In den Schulen muss sich etwas ändern.

Es liest sich wie ein Schlag ins Gesicht. Das erste Pisa-Zeugnis seit der Corona-Pandemie ist verheerend ausgefallen. Deutschland erzielt in der internationalen Leistungsstudie Pisa im Jahr 2022 die niedrigsten Werte, die jemals gemessen wurden – und zwar sowohl in Lesen als auch in Mathematik und Naturwissenschaften. Diese sind noch niedriger als die Zahlen, die Anfang 2000 zum berühmten „Pisa-Schock“ führten. Dass auch international die durchschnittlichen Leistungen der getesteten 15-jährigen Schülerinnen und Schüler in den 34 OECD-Staaten zurückgingen und man in Naturwissenschaften sogar leicht über dem Durchschnitt lag, sorgt bei deutschen Bildungsforschern nicht für ein Aufatmen.

Die Bildung eines ganzen Schuljahres fehlt

Denn: Deutschland ist neben Polen, Norwegen und Island eines von vier europäischen Ländern, in denen der Leistungsabfall besonders eklatant war: Der Rückgang der Leistungen in Mathematik und Lesen im Vergleich zum letzten Pisa-Test von 2018 sei so groß wie der typische Lernfortschritt, den Schülerinnen und Schüler im Alter von etwa 15 Jahren während eines ganzen Schuljahres erzielen, erklärten die Studienmacher. Das heißt: Die Bildung eines ganzen Schuljahres fehlt.

Michael Becker-Mrotzek, Uni Köln

Der Köln Forscher Michael Becker-Mrotzek ist einer der Autoren des Pisa-Berichts.

Wie bedenklich die Lage ist, macht Michael Becker-Mrotzek, Mit-Autor des Pisa-Berichts für die Kompetenz „Lesen“ und Direktor des Kölner Mercator-Instituts für Sprachförderung, deutlich. Als „dramatisch“ bezeichnet er gegenüber dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ das, was er aus den Statistiken etwa für die Kompetenz des Lesens herausliest. Denn: Der Unterschied zwischen den Schülerinnen und Schülern auf dem Gymnasium und denen, die eine andere Schulform besuchen, sei massiv gewachsen.

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Während an den Gymnasien 3,8 Prozent der getesteten Schüler nur die Kompetenzstufe 1 und 2 und damit das Leseniveau von Viertklässlern erreichten, waren es an den anderen Schulformen 35 Prozent. Zum Vergleich: 2012 waren es dort 19,5 Prozent. „Das bedeutet, dass mehr als ein Drittel der Jugendlichen, die nicht das Gymnasium besuchen, am Ende ihrer Schulzeit im Grunde nicht ausbildungsfähig sind“, analysiert Becker-Mrotzek. Sie seien kaum in der Lage, den Sinn eines Textes zu erfassen oder Informationen herauszufiltern.

Soziale Unterschiede sind noch immer der entscheidende Faktor

Als besonders bedenklich bezeichnet Becker-Mrotzek, dass soziale Unterschiede in Deutschland immer noch der entscheidende Faktor bei Bildung ist: Bei der Pisa-Studie übertrafen die 25 Prozent sozial-ökonomisch privilegiertesten Schülerinnen und Schüler die 25 Prozent sozio-ökonomisch am meisten benachteiligten Schüler um 111 Punkte in der Leistung. Das war der größte Unterschied zwischen den beiden Gruppen in allen 34 OECD-Ländern.

Als zentrale Ursachen für die schlechten Ergebnisse nennen die Autoren der Studie neben der Corona-Pandemie auch fehlende Sprachkenntnisse. „Ein zentraler Grund ist sicherlich, dass wir es nach wie vor nicht geschafft haben, eine frühe Sprachförderung für alle, die sie benötigen, durchgängig sicherzustellen“, sagte die Pisa-Studienleiterin und Bildungsforscherin Birgit Lewalter.

Die Aufmerksamkeitsspanne der Kinder reduziert sich immer weiter, es werden nur noch kleine Häppchen gelesen und Texte oder Inhalte, die mehr Geduld oder Vertiefung erfordern, nicht mehr durchdrungen.
Antje Schmidt, Schulleiterin Albertus-Magnus-Gymnasium Köln

„Die Corona-Zeit hat die Kinder medial sehr geprägt“, analysiert Antje Schmidt, Schulleiterin des Albertus-Magnus-Gymnasiums in Köln, den Pisa-Befund. Die Pandemie habe damit einen Wandel verstärkt, der ohnehin durch die Allgegenwart digitaler Medien vorangetrieben werde und sehr problematisch sei. „Die Aufmerksamkeitsspanne der Kinder reduziert sich immer weiter, es werden nur noch kleine Häppchen gelesen und Texte oder Inhalte, die mehr Geduld oder Vertiefung erfordern, nicht mehr durchdrungen.“ Auch an den Gymnasien sei dies sehr stark zu beobachten.

Bildungsforscher fordert Mut von Ministerien und Schulen

Was es jetzt brauche, sei eine entschiedene Priorisierung und ein neuer Fokus, fordert Bildungsforscher Becker-Mrotzek. Die Kernlehrpläne müssten entschlackt und Zeit geschaffen werden, um die sogenannten basalen Kompetenzen Lesen, Schreiben und Rechnen zu trainieren. „Nicht nur in der Grundschule, sondern auch noch an der weiterführenden Schule braucht es kontinuierliches Training dieser Fähigkeiten.“ So wie Nordrhein-Westfalen das seit diesem Jahr bei den Grundschulen mit der Extra-Leseförderung mache, müsse dies auch flächendeckend an den weiterführenden Schulen passieren. „Dazu braucht von den Schulministerien bis in die Schulen endlich den Mut, auch hinzuschauen und das in den Regelunterricht zu integrieren.“

„Dazu brauchen wir aber mehr Beinfreiheit“, nennt Andreas Niessen, Leiter der Helios-Gesamtschule in Köln-Ehrenfeld das Problem. „Wir müssen weg von verbindlichen Stoffverteilungsplänen und reiner Wissensvermittlung. Das ist die Priorität. Dann haben wir eben ein Halbjahr mal beispielsweise keinen Erdkundeunterricht“. Es müsse mehr Zeit da sein für vertieftes Üben und die Vermittlung der grundlegenden Kompetenzen – gerade angesichts der Herausforderungen durch die Digitalität und den massiv gestiegenen digitalen Medienkonsum der Kinder, ergänzt Schmidt. Außerdem braucht es laut Niessen ein engeres Monitoring der Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler. „Zentrale Lernstandserhebungen in der achten Klasse oder Pisa-Tests sind zu wenig. Statt Klassenarbeiten mit dem Fokus auf Bewertung brauche es viel mehr Diagnose“, ergänzt Niessen.

Aber eigentlich, so sind sich alle befragten Experten einig, muss die Pisa-Therapie viel früher ansetzen: „Wir brauchen ein verpflichtendes Kita-Jahr für alle Kinder. Besser wären noch zwei“, sagt Christiane Hartmann. Sie ist Leiterin der James-Krüss-Grundschule in Köln-Ostheim, einer Grundschule im Brennpunkt. In der Kita müsse die verbindliche Sprachförderung ansetzen. „Außerdem müsste viel mehr Geld in Strukturen und Institutionen fließen – sprich in Kitas und Schulen – und weniger in direkte Hilfen für die Eltern.“ Zumal viele Eltern aufgrund der Komplexität der Antragstellung ohnehin nicht in der Lage seien, sich diese zu beschaffen. Strukturelle Hilfen in die Schulen reinzuholen – von der Jugendhilfe bis zu flächendeckender Sozialarbeit und Therapieangeboten, das würde helfen, findet Hartmann.

Schulministerin Dorothee Feller (CDU) zeigte in ihrer Reaktion auf das Ergebnis der Pisa-Studie, dass sie die Lage ähnlich analysiert wie die Schulen selbst: „Pisa zeigt, dass wir die Basiskompetenzen Lesen, Schreiben, Rechnen und Zuhören konsequent stärken müssen. Das beginnt in der Grundschule und muss in den weiterführenden Schulen fortgesetzt werden.“

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