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Inklusion in NRW„Es ist ganz schön anstrengend, behindert zu sein“

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Menschen mit Behinderungen im Landtag, mit Dennis Sonne (Grüne,erste Reihe links).

Menschen mit Behinderungen haben sich im Landtag mit Dennis Sonne (Grüne, erste Reihe links) getroffen.

Geringer Lohn in den Werkstätten, Papierkrieg mit Behörden, fehlende Barrierefreiheit: Viele Menschen mit Behinderung sind unzufrieden mit der Umsetzung der Inklusion. 

Joost wurde mit dem Down-Syndrom geboren. Normalerweise wäre der 21-Jährige um diese Zeit im Reiterhof in Keppeln am Niederrhein anzutreffen, wo er als Küchenhilfe eingesetzt wird. Doch heute verläuft der Tag ganz anders. Joost ist nach Düsseldorf gekommen. Er sitzt im Fraktionssaal der Grünen im Düsseldorfer Landtag und schaltet das Mikrofon an seinem Sitzplatz an. „Hört jetzt der Krieg in der Ukraine auf?“, will er wissen.

Joost gehört zu einer Besuchergruppe, die von dem Grünen-Abgeordneten Dennis Sonne in das Landesparlament eingeladen wurde. Vor dem Internationalen Tag der Menschen mit Behinderungen, der jährlich am 3. Dezember begangen wird, sollen sie Gelegenheit bekommen, Fragen zu stellen und sich Gehör zu verschaffen. „Behindert zu sein, ist ganz schön anstrengend“, sagt Jenifer aus Düren, die als Kind einen Hirnschaden erlitten hat. Komplizierte Antragsformulare auszufüllen, sei immer wieder frustrierend. Viele in der Gruppe nicken zustimmend.

Ärger über schlechte Bezahlung für Menschen mit Behinderung

Thema Nummer eins ist für die meisten Besucher der Alltag in den Behindertenwerkstätten. Dort wurde den Menschen nicht genügend Möglichkeiten gegeben, um sich weiterzubilden, sagt Katja Hardenfels, die mit Asperger-Autismus und Narkolepsie lebt. „Oft herrscht ein respektloser Umgang mit den Beschäftigten“, stellt die Frau aus Schwerte fest. Die Bezahlung sei völlig unzureichend.

Das ist ein Punkt, der die meisten Betroffenen ärgert. Von einem Mindestlohn sei man ja weit entfernt, und ein Entgelt von monatlich unter 250 Euro sei zu gering. „Die Lebensmittel werden immer teurer. Uns hilft in der Politik keiner“, sagt ein Mann mit Down-Syndrom ins Mikro.

Grünen-Politiker Dennis Sonne sitzt seit einem Unfall in seiner Jugendzeit im Rollstuhl. Er ist der Sprecher für Inklusion und Behindertenpolitik seiner Fraktion und weiß aus eigener Erfahrung, dass es nicht einfach ist, genug öffentliche Aufmerksamkeit für das Thema zu bekommen. „Wenn wir Menschen mit Behinderungen in Sonderwelten stecken, verlieren wir enormes Potenzial, menschlich wie ökonomisch“, sagt der Politiker aus Lüdinghausen. Diesen Verlust könne sich die Gesellschaft nicht länger leisten.

Inklusion und Bildungsgerechtigkeit seien eben kein Kostenfaktor, sondern ein „entscheidender Wettbewerbsvorteil, eine Investition in die Zukunft“, so Sonne. Deutschland brauche Strukturen, die Talente fördern, anstatt sie aussortieren. „Erst wenn Barrierefreiheit und gleiche Chancen selbstverständlich werden, wird unser Land wirklich zukunftsfähig – und gerecht“, so der Grünen-Politiker.

Autistin schafft Jobs für Menschen mit Asperger

Die Fähigkeiten und die Leistungsbereitschaft der Menschen mit Behinderungen werden oft unterschätzt. Die Autistin Katja Hardenfels hatte die Idee, sich mit einem Knopfprojekt selbstständig zu machen und Jobs für Menschen, die mit dem Asperger-Autismus leben, zu schaffen. Dabei werden gebrauchte Knöpfe in mehreren Schritten wieder aufbereitet, sortiert und neu verpackt. Dank des hervorragenden fotografischen Gedächtnisses dieser Menschen sind sie für Mustererkennung, Sortieren, Ordnen und Kategorisierung besonders gut geeignet. Hardenfels plant, in der TV-Show „Höhle der Löwen“ Investoren für die Idee zu finden.

Der Internationale Tag der Menschen mit Behinderungen wurde 1992 von den Vereinten Nationen ins Leben gerufen. In NRW kümmert sich die Agentur Barrierefreiheit seit 2005 darum, die Inklusion der Menschen mit Behinderungen in den Bereichen Bauen, Verkehr, Leichte Sprache, IT und technische Hilfsmittel zu verbessern. Davon profitieren oft auch Familien mit Kindern und ältere Menschen.

„Potenzial nicht ungenutzt lassen“

Der Grüne Dennis Sonne erklärte, der Besuch der Gruppe im Landtag habe gezeigt, dass es nicht die eine Behinderungsart gebe, sondern viele unterschiedliche, die so vielfältig seien wie die Menschen selbst. Der Internationale Tag der Menschen mit Behinderungen weise auf Individualität, auf die Stärke jedes Einzelnen und darauf hin, wie wichtig es sei, Menschen dauerhaft teilhaben zu lassen und ihre Fähigkeiten kontinuierlich in alle Prozesse einzubeziehen: „Nicht nur am 3. Dezember, sondern immer.“

Für den Bereich soziale Inklusion stellt das Land 3,5 Millionen Euro pro Jahr zur Verfügung. Hinzu kommen Inklusionsmittel für den Arbeitsmarkt in Höhe von 1,5 Millionen Euro. „Gerade in Zeiten des Fachkräftemangels dürfen wir das Potenzial von Menschen mit Behinderung nicht ungenutzt lassen“, sagte NRW-Arbeitsminister Karl-Josef Laumann (CDU). Silvia Gosewinkel, Landtagsabgeordnete der SPD, erklärte: „Inklusion ist ein Menschenrecht und darf nicht den Streichungsplänen der Landesregierung zum Opfer fallen.“