Friedrich Merz möchte die Eingliederungshilfen kürzen. Kölner Träger der Behindertenhilfe kritisieren das Ansinnen des Kanzlers.
Hilfen für behinderte Kinder„Teilhabe ist ein Menschenrecht, keine Kann-Leistung des Staates“

Eingliederungshilfen sollen behinderten jungen Menschen die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und an Bildung gestatten, dazu zählen auch Schulbegleiterinnen.
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Antons (16) Weg zum Abitur an einer Müngersdorfer Schule ebnete ihm unter anderem auch seine Schulbegleiterin, deren Assistenz er aufgrund seiner Autismusspektrumsstörung dringend benötigte. Marla (12) aus Porz, die sich mithilfe eines Rollstuhls fortbewegt, ist, um den Jugendtreff und das Rollstuhl-Basketballtraining zu besuchen, auf einen Freizeitassistenten angewiesen. Simon (4) ist körperlich und geistig beeinträchtigt, besucht deshalb eine heilpädagogische Kindertagesstätte in Rodenkirchen – und zweimal pro Woche eine Therapeutin.
Diese sogenannten Eingliederungshilfen, auch staatliche Unterstützungsangebote, sollen jungen Menschen eine individuelle Lebensführung ermöglichen, die der Würde des Menschen entspricht, und eine volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft fördern. Diese Sozialleistungen sind durch das Bundesteilhabegesetz geregelt und seit dem Jahr 2020 im „Sozialgesetzbuch Neun“ zu finden. Die gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben wird Menschen mit Behinderung übrigens schon im Grundgesetz garantiert, wo es heißt: „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“.
Hilfen, um am sozialen Leben teilzuhaben
Bei der letzten Erhebung aus dem Jahr 2023 erhielten deutschlandweit rund eine Million Menschen, davon 31,6 Prozent Kinder unter 18 Jahren, Leistungen der Eingliederungshilfe, was einer Steigerung um 1,7 Prozent gegenüber dem Vorjahr entspricht. Im Regierungsbezirk Köln erhielten rund 60.000 Menschen, davon knapp ein Drittel unter 18-Jährigen, Eingliederungshilfen – ein Großteil von ihnen nahm sie in Anspruch, um am sozialen Leben teilnehmen zu können. Dazu qualifizierte Assistenten, die Betroffenen helfen, ihren Alltag selbstbestimmt und eigenständig zu bewältigen sowie heilpädagogische Leistungen für noch nicht eingeschulte Kinder, wie zum Beispiel ambulante Hilfen, Tages- und stationäre Einrichtungen oder Pflegepersonen. Daneben gibt es Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben und an Bildung sowie zur medizinischen Rehabilitation.

Eva-Maria Thoms
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Wir leben in einer der reichsten Gesellschaften der Welt. Wenn deren Kanzler in Krisen nichts anderes einfällt, als an Menschen mit Behinderungen zu sparen, weckt das gewisse Zweifel an dessen gesellschaftlicher und fachlicher Kompetenz. Denn die Steigerungen in diesem Bereich sind auf die allgemeine Kosten- und Tariflohnentwicklung zurückzuführen, nicht darauf, dass Menschen mit Behinderung ihre Ansprüche hochgeschraubt haben.
Die Ausgaben für Eingliederungshilfen beliefen sich im Jahr 2023 bundesweit auf rund 25,4 Milliarden Euro, und damit 9,4 Prozent mehr als im Jahr zuvor. Diese Steigerungsrate empfindet Bundeskanzler Friedrich Merz nun „als nicht länger akzeptabel“, wie er auf dem Kommunalkongress des Deutschen Städte- und Gemeindebundes verkündet hat. Sein Ansinnen, die Eingliederungshilfe auf den Prüfstand zu stellen, führt zu einer großen Verunsicherung bei den Betroffenen – da es vermuten lässt, dass künftig an den Leistungen für Menschen mit Behinderungen gespart werden soll.
Kanzler-Ansinnen sorgt für Gegenwind
Die indirekten Sparforderungen des Kanzlers werfen viele Fragen auf – und sorgen für mächtigen Gegenwind. „Mit dieser pauschalen Aussage unterstellt der Kanzler, dass Menschen mit Behinderung zu Unrecht Leistungen beziehen und zu viel Geld kosten. Das ist ungeheuerlich! Betroffene Menschen erhalten ausschließlich bedarfsgerechte Unterstützung, damit sie gleichberechtigt am gesellschaftlichen Leben teilhaben können. Wir denken, dass Menschen mit Behinderung sich ein schönes Leben auf Kosten des Staates machen, der irrt gewaltig“, kritisiert die Bundesvorsitzende der Lebenshilfe Ulla Schmidt.
Lisa Behme, eine betroffene Mutter von drei pflegebedürftigen Kindern und selbst Schulbegleiterin, reagierte auf die Aussagen des Kanzlers unmittelbar mit einer Petition auf „Change.org“, die eine klare Botschaft enthält: Teilhabe ist kein Luxus! Seitdem haben mehr als 181.000 Menschen die Petition unterzeichnet, um sich gegen die angekündigten Kürzungen einzusetzen. Behme beschreibt eindrücklich, was die geplanten Kürzungen für ihre Familie wären: „Meine drei Kinder brauchen Schulbegleitung, alle haben besonderen Förderbedarf. Ab Sommer stehen zehn Therapietermine pro Woche an – zusätzlich zum Alltag und dem Wunsch, dass unsere Kinder auch einfach mal Kind sein dürfen: spielen, Freunde treffen, Hobbys haben. Ein Teil dieser dringend nötigen Therapien wird durch die Eingliederungshilfe ermöglicht. Ohne sie wäre vieles nicht machbar.“
Kölner Kritik an den geplanten Sparmaßnahmen von Friedrich Merz
Auch aus Kölner Vereinen, die sich für die Belange behinderter Menschen einsetzen, und seit vielen Jahren unter anderem von „wir helfen“ gefördert werden, ist scharfe Kritik zu vernehmen: „Wir leben in einer der reichsten Gesellschaften der Welt. Wenn deren Kanzler in Krisensituationen nichts anderes einfällt, als an Menschen mit Behinderungen zu sparen, weckt das gewisse Zweifel an dessen gesellschaftlicher und fachlicher Kompetenz. Denn die Steigerungen in diesem Bereich sind auf die allgemeine Kosten- und Tariflohnentwicklung zurückzuführen, nicht darauf, dass Menschen mit Behinderung ihre Ansprüche hochgeschraubt haben. An den Schwächsten der Gesellschaft darf auf keinen Fall gespart werden“, mahnte Eva-Maria Thoms vom mittendrin e.V. , einem Kölner Verein, der sich für Inklusion starkmacht.

Silke Mertesacker und Matthias Toetz.
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Auch uns stellt sich die von Michael Groß, Präsident der Arbeiterwohlfahrt, geäußerte Frage, warum der Kanzler einen gefährlichen Diskurs über den Investitionswert bestimmter Menschengruppen aufmacht. Sollen die Bundesregierung und die Ministerien tatsächlich diese Wege der Kosteneinsparung suchen, sind unbedingt auch Menschen mit Behinderung selbst zu beteiligen
Silke Mertesacker und Matthias Toetz vom Vorstand der Lebenshilfe Köln unterstreichen die Problematik der angedachten Arbeiten mit einem Zitat von Gustav Heinemann: „Man erkennt den Wert einer Gesellschaft daran, wie sie mit den schwächsten ihrer Glieder umgeht. Teilhabe ist kein Luxus, auch an ihr erkennen wir den Wert einer Gesellschaft – in diesem Fall ist es unser!“ Die Botschaft hinter der Ankündigung des Kanzlers, „im Sozialrecht eine umfassende Aufgabenprüfung durchführen“, sei „klar und eindeutig – Geld sparen bei Menschen mit Behinderung!“ und suggeriere, dass diese Menschen zu Unrecht Leistungen beziehen und zu viel Geld kosten.
Gefährlicher Diskurs über den Investitionswert von Menschen
„Auch uns stellt sich die von Michael Groß, Präsident der Arbeiterwohlfahrt, geäußerte Frage, warum der Kanzler einen gefährlichen Diskurs über den Investitionswert bestimmter Menschengruppen aufmacht“, sagt Mertesacker. „Sollten die Bundesregierung und die Ministerien tatsächlich diese Wege der Kosteneinsparung suchen, sind unbedingt auch Menschen mit Behinderung selbst zu beteiligen. Wir laden die Vertreterinnen und Vertreter aller demokratischen Parteien hier in Köln ein, sich ein persönliches Bild der Lebenswirklichkeiten von Menschen mit Behinderung zu machen. Sprechen Sie mit ihnen direkt – nicht ohne sie, über sie!“, so Toetz.

Petra Gast.
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Teilhabe ist ein Menschenrecht, keine Kann-Leistung des Staates. Kürzungen in der Eingliederungshilfe vergrößern die soziale Schere und gefährden den sozialen Frieden.
Der Kölner Verein „wir für pänz“ kümmert sich um Familien und Kinder, die durch chronische Krankheit, Behinderung, Entwicklungsverzögerung oder durch Armut benachteiligt sind. Dessen Geschäftsführerin Petra Gast mahnte: „Dass Kinder, Jugendliche und Familien schon jetzt unverhältnismäßig lange auf Bescheide für unterstützende Maßnahmen zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben warten oder sie erst gar nicht gewährt bekommen, weil Zuständigkeiten hin und her geschoben werden. Oder schlicht das Geld zur Bewilligung fehlt.“
Kürzungen gefährden den sozialen Frieden
Häufig hatten diese Familien auch keine Kraft und keine Kompetenz, sich dagegen zu wehren. Die Konsequenz daraus sei unter anderem, dass Kinder und Jugendliche der Kita- oder Schulbesuch verwehrt würden, ihnen das Recht auf individuelle Entwicklung und gesellschaftliche Teilhabe fehlt und durch mangelnde Möglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt, Armut als ständiger Zustand droht. „Teilhabe ist ein Menschenrecht, keine Kann-Leistung des Staates. Kürzungen in der Eingliederungshilfe vergrößern die soziale Schere und gefährden den sozialen Frieden“, sagt Gast und fordert von der Politik ein klares Votum für Inklusion und Teilhabe, weniger Bürokratie und transparentere Strukturen – „denn darauf bedacht, in der Bürokratie Gelder für dringend notwendige Leistungen freizusetzen.“