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„Absolute Milchmädchenrechnung“Fragen und Antworten zur möglichen Abschaffung von Pflegegrad 1

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Die schwarz-rote Koalition erwägt die Abschaffung des Pflegegrades eins, während Sozialverbände davor warnen und betroffene Gruppen unterstützen.

Die schwarz-rote Koalition erwägt die Abschaffung des Pflegegrades eins, während Sozialverbände davor warnen und betroffene Gruppen unterstützen.

Die schwarz-rote Koalition erwägt Einsparungen im Sozialsystem durch Abschaffung von Pflegegrad eins, trotz starker Kritik.

Die schwarz-rote Koalition hat massive Geldprobleme und schielt zum Sparen vor allem auf die Sozialsysteme. Neueste Kürzungsidee: eine Abschaffung des Pflegegrades 1. Der Vorschlag empört Sozialverbände und Patientenschützer, auch die SPD lehnt ihn ab. Andere halten einen solchen Schritt für unausweichlich.

Was beinhaltet der Pflegegrad 1?

In der Pflegeversicherung gibt es seit 2017 fünf Abstufungen, in denen die Pflegebedürftigkeit von Menschen gemessen wird. Ziel war, nicht nur Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen zu unterstützen, sondern auch Demenzkranke. Seitdem man von „Pflegegraden“ statt „Pflegestufen“.

Der Pflegegrad 1 ist die unterste Stufe: Hier geht es um eine „geringe Beeinträchtigung der Selbstständigkeit“. Betroffene bekommen monatlich bis zu 131 Euro erstattet, etwa wenn ein Pflegedienst beim Duschen, Einkaufen oder der Wäsche hilft.

Außerdem sind Zuschüsse zum Einbau einer barrierefreien Dusche möglich, und Angehörige können kostenfreie Pflegekurse belegen. Es geht vor allem darum, dass ältere Menschen mit etwas Unterstützung länger in den eigenen vier Wänden leben können.

Wie viele Menschen beziehen Leistungen im Pflegegrad 1?

Laut Bundesgesundheitsministerium lag die Zahl Ende 2024 bei rund 861.000 Fällen – 18 Prozent der rund 4,8 Millionen Leistungsbezieher in der Pflegeversicherung. Die Zahl stieg zuletzt an: Ende 2023 galt noch für rund 779.000 Menschen der Pflegegrad 1.

Was ist über die Pläne der Koalition bekannt?

Nicht viel. Die „Bild“-Zeitung berichtete, dass die Regierung die Abschaffung des Pflegegrades 1 prüfe. Ein Dementi gab es nicht, Gesundheitsministerin Nina Warken (CDU) reagierte ausweichend.

In Interviews sagte sie, es stehe noch nicht fest, wo die Koalition ansetzen werde. Man werde aber „den Menschen nicht über Nacht etwas wegnehmen“. Spätere Schritte ließ sie damit offen. Warken argumentiert, es seien Änderungen nötig, um das System generationengerecht zu machen.

Wo ist das Problem?

Der gesetzlichen Pflegeversicherung fehlen bereits jetzt rund zwei Milliarden Euro – nach Berechnungen des Bundesrechnungshofes könnte die Lücke bis 2029 auf mehr als zwölf Milliarden anwachsen.

Union und SPD haben zugleich das Ziel ausgegeben, die Sozialversicherungsbeiträge stabil zu halten. Nach dieser Logik müssen sie an anderer Stelle im System sparen. Die Koalition hat eine Bund-Länder-Kommission eingesetzt, die noch in diesem Jahr Vorschläge vorlegen soll.

Die Leistungen der Pflegeversicherung sind aber bereits heute so unzureichend, dass eine wachsende Zahl von Pflegebedürftigen wieder auf die Sozialhilfe angewiesen ist.

Wie fallen die Reaktionen aus?

Sozialverbände und Patientenschützer sprechen von einem fatalen Signal und einem schweren Schlag für die Betroffenen: Die Chefin des Sozialverbands Deutschland, Michaela Engelmeier, sagte dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND), es handele sich noch dazu um eine „absolute Milchmädchenrechnung“. Die Leistungen förderten die Selbstständigkeit der Pflegebedürftigen und beugten stationären Verläufen vor: „Pflegegrad 1 senkt die Kosten, ihn abzuschaffen wäre mehr als unklug.“

Koalitionspartner SPD sperrte sich umgehend gegen die Idee. SPD-Fraktionschef Matthias Miersch sagte, seine Partei werde das nicht mitmachen. Die Diskussion sei „augenblicklich Gift“.

Wer befürwortet die Pläne?

Wirtschaftswissenschaftler Bernd Raffelhüschen plädierte erst kürzlich dafür, den Pflegegrad 1 zu streichen: „Er ist überflüssig“, sagte er dem RND und argumentierte, es sei schon bei der Einführung der Pflegeversicherung 1995 klar gewesen, dass immer weniger Einzahlende immer mehr Pflegebedürftige finanzieren müssen. Dennoch seien die Leistungen immer weiter ausgebaut worden.

„Die Beiträge zur Pflegeversicherung drohen ohne Reformen zu explodieren“, sagte auch Steffen Kampeter, Hauptgeschäftsführer des Arbeitgeberverbands BDA, der die angestoßene Debatte begrüßt. „Die Pflegeversicherung muss sich auf große Risiken konzentrieren, die Betroffene nicht aus eigener Kraft bewältigen können.” Die Pflegestufe 1 dürfe bei den Überlegungen nicht ausgeklammert werden.

Wie viel Geld lässt sich ohne Pflegegrad 1 sparen?

Das Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung kommt laut einer Hochrechnung auf gut 1,8 Milliarden Euro, die sich durch Streichung des Pflegegrades 1 einsparen ließen, erklärte ein Sprecher dem RND.

Wie wird sich die Zahl der Pflegebedürftigen entwickeln?

Nach oben – die Frage ist nur, wie rasant. Die Deutschen werden immer älter und das Statistische Bundesamt geht davon aus, dass allein deshalb die Zahl der Pflegebedürftigen bis Ende 2055 um 37 Prozent auf 6,8 Millionen Menschen steigt. Erst danach rechnen die Statistiker mit einem Ende der Veränderungen, weil auf die geburtenstarken Babyboomer dann geburtenschwächere Jahrgänge folgen.

Warum deckt die Pflegeversicherung so wenige Leistungen ab?

Die Pflegeversicherung ist so ausgelegt, dass sie nur einen Teil der Kosten auffängt. Wäre sie „Vollkasko“, würde also alle Risiken abdecken, wären die Kosten deutlich höher.